Der Schuss nebenan Kommissar Morry
sehen."
„Ich kenne Sie nicht", sagte Janet abwehrend. „Aber ich weiß, daß Papa sich niemals zu derartigen Geschäften verstanden hätte. Es mag sein, ich erwähnte es bereits, daß es früher viel Schlimmes angestellt hat. Weil das zutrifft, glaubte die Polizei, er könnte sich nicht gebessert haben. Tatsache ist, daß er ein ganz normales Leben führte."
„Wobei freilich einzuwenden wäre", meinte Lord Bramsey, „daß es kaum zu den Gewohnheiten der Familienväter gehört, Frauen und Töchter mit zweifelhaften Geschäften vertraut zu machen."
„Interessieren Sie sich nur deshalb für meinen Vater, weil die Polizei Ihnen zu unterstellen wagt, an seinem Tod schuldig zu sein?" fragte das Mädchen.
„Ja, in der Hauptsache", sagte Lord Bramsey, der dankbar den rettenden Strohhalm ergriff.
„Erwarten Sie von uns Hilfe?"
„Nicht direkt."
„Weshalb sind Sie dann gekommen?"
„Mich interessiert der gesamte Komplex."
„Sind Sie Amateurdetektiv?"
„Ja, so etwas ähnliches."
Janet lächelte. „Detektive müssen Fragen stellen. Das habe ich schon gestern zu meinem Leidwesen erfahren. Also beginnen Sie."
„Ich muß — obwohl Sie das sicherlich überraschen wird — immer wieder auf Sie zurückkommen. Es ist für mich von ernormer Bedeutung, zu wissen, ob Sie glücklich sind, ob Sie sich in dieser Umgebung wohlfühlen."
„Warum sollte ich das nicht?" fragte das Mädchen verblüfft.
„Dafür gäbe es gute Gründe."
„Ach, Sie denken daran, daß man meinem Vater vorwirft, ein Gangster gewesen zu sein?"
„Nicht nur daran. In der Zeitung habe ich gelesen, daß er eine Geliebte hatte. Eine Mabel Reley. Stimmt das?"
Janet errötete. „Es stimmt."
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß das für Sie eine sehr beglückende Situation war, oder haben Sie nichts davon gewußt?"
„Papa hat daraus kein Geheimnis gemacht?"
Janet zögerte mit der Antwort, dann sagte sie: „Bevor ich antworte, sollten wir das Wörtchen Glück definieren. Reines, pausenloses Glück ist keinem beschieden, es ist schon deshalb nicht denkbar, weil es sich abschleifen müßte, weil es keinen Menschen gibt, der immer nur auf dem Höhepunkt seiner Stimmung ist. Um das Glück zu genießen, muß man auch das Leid kennen. Das bleibt keinem erspart, weder dem Armen noch dem Reichen. Ich bestreite nicht, daß mir Papas Vergangenheit und seine Liebeleien Kummer machten, aber das hielt mich andererseits nicht davon ab, das normale Leben eines jungen Mädchens zu führen. Ein Leben, das frei von pekuniären Sorgen und voller reizender Abenteuer war." Sie errötete plötzlich und fügte hinzu: „Ich hoffe, Sie mißverstehen das Wort Abenteuer nicht. Ich spreche hier nicht von amourösen Erlebnissen. Ich möchte nur sagen, daß das ganze Leben wie ein buntes Abenteuer erscheint, wenn man jung ist und die Zukunft noch vor sich hat!"
„Für Ihr Alter haben Sie eine bemerkenswerte klare, vernünftige Einstellung zu den Dingen."
„Ach was, ich sage nur, was ich denke."
„Sicher. Glücklicherweise denken Sie das Richtige."
Einen Moment lang schwiegen die beiden jungen Menschen. Janet betrachtete aufmerksam die Züges ihres Gegenübers; sie konnte nicht umhin, sich dem Reiz zu entziehen, den Lord Bramseys dunkle Männlichkeit ausstrahlte.
Er beugte sich ein wenig über den Tisch nach vorn. „Sie geben mir Mut", sagte er. „Sie lassen mich hoffen, ein heikles Thema sachlich und ohne große Gefühlsaufwallung mit Ihnen diskutieren zu können."
„Ein heikles Thema?" fragte sie stirnrunzelnd.
„Fürchten Sie sich davor?"
„Sagen Sie mir, worum es sich handelt."
„Um Ihren Vater!"
„Aber Papa ist tot", erwiderte sie, fast ein wenig ärgerlich. „Können Sie die Toten nicht ruhen lassen?"
„Ich spreche nicht von Mr. Rodrigez."
Janet atmete heftig. „Sie sagten, es handle sich um meinen Vater."
„Ganz recht", erwiderte Lord Bramsey ruhig und schaute dem Mädchen eindringlich in die Augen. „Ihr Vater lebt, Janet. Nur ist es nicht Mr. Rodrigez..."
*
Janet starrte ihn an, als erlebe sie es zum ersten Male, daß ein vernünftiger, intelligenter Mensch in ihrem Beisein plötzlich den Verstand verliert.
Lord Bramsey holte tief Luft. Dann sagte er mit leicht gepreßter Stimme: „Es lag nicht in meiner Absicht, Sie mit der Konfrontierung der Wahrheit schon jetzt und heute zu schockieren. Ich hatte mir vorgenommen, erst das Gelände zu sondieren, wie ein Militär sagen würde, und dann, später vielleicht und nur
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