Der Schutzengel
als erster zu diesem Mittel. Aber sobald jemand Gewalt anwendet, verteidigt man sich, seine Angehörigen, seine Freunde und jeden anderen Gefährdeten. Ich habe darunter gelitten, diese beiden Männer im Haus erschießen zu müssen. Ich bin keine Heldin. Ich bin nicht stolz darauf, sie erschossen zu haben – aber ich schäme mich auch nicht, es getan zu haben. Ich will nicht, daß du deswegen stolz auf mich bist oder glaubst, der Tod dieser Männer sei befriedigend für mich, weil Rache mich Daddys Ermordung leichter ertragen läßt. Das ist keineswegs so.«
Chris gab keine Antwort.
»Habe ich dir zuviel zugemutet?« fragte sie besorgt.
»Nein, aber ich muß erst darüber nachdenken«, antwortete er. »Im Augenblick denke ich noch böse, glaube ich. Weil ich allen, die etwas mit … mit Daddys Ende zu tun haben, den Tod wünsche. Aber ich verspreche dir, daran zu arbeiten, Mom. Ich will versuchen, ein besserer Mensch zu werden.«
Sie lächelte. »Das wirst du bestimmt, Chris.«
Während sie nach ihrem Gespräch beide minutenlang schwiegen, wurde Laura das Gefühl nicht los, ihnen drohe weiterhin unmittelbare Gefahr. Sie waren ungefähr zehn Kilometer auf der Bergstraße gefahren und hatten noch knapp zwei Kilometer bis zu dem asphaltierten Straßenstück, das zur Staatsstraße 38 führte. Je länger sie fuhr, desto gewisser wurde ihre Ahnung, sie habe irgend etwas übersehen und müsse auf die nächste Krise gefaßt sein.
Laura hielt plötzlich auf der Kuppe, nach der die Straße sich ins Tal senkte, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus.
»Was ist los?« fragte Chris.
»Nichts. Ich muß nur überlegen und nach unserem Mitfahrer sehen.«
Sie stieg aus und ging um den Jeep herum nach hinten. Als sie die Heckklappe öffnete, brachen Teile der zerschossenen Scheibe heraus und fielen ihr vor die Füße. Laura kletterte auf die Ladefläche, streckte sich neben ihrem Beschützer aus und fühlte nach dem Puls des Verletzten. Er schlug noch immer schwach, vielleicht schwächer als zuvor, aber wenigstens gleichmäßig. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn und merkte, daß er nicht mehr eiskalt war, sondern von innen heraus zu glühen schien. Chris reichte ihr die Taschenlampe aus dem Handschuhfach nach hinten. Sie schlug die Decken zurück, um nachzusehen, ob der Verletzte etwa wieder stärker blutete. Seine Schußwunde sah schlimm aus, aber sie schien nur mehr wenig geblutet zu haben, obwohl der Mann auf der Ladefläche hin und her geworfen worden war. Sie deckte ihn wieder zu, gab Chris die Taschenlampe zurück, kletterte aus dem Jeep und schloß die Heckklappe.
Laura brach die restlichen Glassplitter aus dem Heckfenster und dem kleineren Seitenfenster hinten auf der Fahrerseite. Ohne jegliches Glas war der Schaden weniger auffällig, so daß die Wahrscheinlichkeit geringer war, daß ein Cop oder sonst jemand darauf aufmerksam wurde.
Sie blieb eine Zeitlang in der Kälte neben dem Jeep stehen, starrte in die lichtlose Wildnis und bemühte sich, eine Verbindung zwischen Instinkt und Vernunft herzustellen: Weshalb war sie so überzeugt, eine weitere Krise meistern zu müssen, bei der es wieder gewalttätig zugehen würde?
In der Höhe riß ein starker Westwind die Wolken auf und trieb sie vor sich her nach Osten, aber der Höhenwind hatte sich noch nicht bis zum Boden durchgesetzt, wo es eigenartig windstill blieb. Durch diese unregelmäßigen Wolkenlöcher fiel Mondschein und tauchte die verschneite Landschaft mit Hügeln und Tälern, nachtschwarzen Kiefern und hellen zusammengedrängten Felsformationen in silberglänzendes, fast unheimliches Licht.
Laura blickte nach Süden, wo die Bergstraße nach wenigen Kilometern in die Staatsstraße 38 einmündete, und konnte nichts Bedrohliches erkennen. Sie schaute nach Osten und Westen und zuletzt nach Norden, wo sie hergekommen waren; überall schienen die San Bernardino Mountains völlig unbewohnt zu sein – ohne ein einziges Licht, das ihre aus Urzeiten bewahrte Reinheit und Stille gestört hätte.
Sie stellte sich dieselben Fragen und erhielt dieselben Antworten, die seit einem Jahr Bestandteil eines inneren Dialogs gewesen waren. Woher kamen die Männer mit den Gürteln? Von einem anderen Planeten, aus einer anderen Galaxie? Nein, sie waren so menschlich wie sie selbst. Vielleicht kamen sie aus der Sowjetunion. Vielleicht fungierten die Gürtel als Materietransmitter – wie die Teleportationskammern in dem Science-fiction-Film, den sie einmal
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