Der Schwarm
Kollektivbeschluss gefasst haben, in dem die Frage nach moralischer Verantwortung und Mitgefühl nicht aufkommt. Wir können ihnen nicht mit unschuldigen Kulleraugen kommen, was im Film noch bei dem widerlichsten kosmischen Schleimbeutel klappt. Wir können nur eines versuchen: Ihr Interesse dafür zu wecken, lieber mit uns zu kommunizieren als uns umzubringen. Ohne physikalische und mathematische Kenntnisse hätten die Yrr nicht vollbringen können, was sie bislang vollbracht haben, also fordern wir sie zu einemmathematischen Duell heraus – bis zu dem Punkt, da ihnen ihre Logik oder meinethalben ihre unbegreifliche Moral gebieten wird, ihr Handeln zu überdenken.«
»Dass wir intelligent sind, muss ihnen klar sein«, beharrte Rubin. »Wenn sich jemand durch die Beherrschung von Physik und Mathematik auszeichnet, dann ja wohl wir.«
»Ja, aber sind wir eine bewusste Intelligenz?«
Rubin blinzelte verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, sind wir uns unserer Intelligenz bewusst?«
»Na sicher!«
»Oder sind wir ein lernfähiger Computer? Wir kennen die Antwort, aber kennen die anderen sie auch? Theoretisch können Sie ein komplettes Hirn durch elektronische Pendants ersetzen, dann erhalten Sie künstliche Intelligenz. Die kann alles, was sie auch können. Sie konstruiert Ihnen ein Raumschiff und trickst die Lichtgeschwindigkeit aus. Aber ist dieses Computerhirn sich seiner Leistungen bewusst? 1997 hat Deep Blue, ein IBM-Computer, den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow im Schach geschlagen. Verfügt Deep Blue deswegen über Bewusstsein? Hat der Computer gesiegt, ohne zu wissen, warum? Muss man zwangsläufig annehmen, wir seien Lebewesen von bewusster Intelligenz, nur weil wir Städte bauen und Tiefseekabel verlegen? Bei SETI haben wir jedenfalls nie ausgeschlossen, auf eine Maschinenzivilisation zu stoßen, die ihre Konstrukteure überdauert und sich seit Jahrmillionen selbstständig weiterentwickelt hat.«
»Und die da unten? Ich meine, wenn es stimmt, was Sie sagen – vielleicht sind die Yrr ja auch nur Ameisen mit Flossen. Ohne Werte, ohne ...ohne...«
»Richtig. Das ist der Grund, warum wir mehrstufig vorgehen«, sagte Crowe lächelnd. »Erst mal will ich wissen, ob da jemand ist. Zweitens, ob man in einen Dialog mit ihm treten kann. Drittens, ob sich die Yrr des Dialogs und ihrer selbst überhaupt bewusst sind. Erst dann, wenn ich zu dem Schluss gelange, dass sie neben all ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten auch noch Vorstellungsvermögen und Verständnis mitbringen, bin ich bereit, sie als intelligente Wesen zu betrachten. Erst dann hat es Sinn, über Werte nachzudenken, und selbst dann sollte keiner hier im Raum erwarten, dass sie deckungsgleich mit unseren sind.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ich will mich nicht in wissenschaftliche Diskussionen einmischen«, sagte Li schließlich. »Pure Intelligenz ist kalt. Intelligenz gekoppelt mit Bewusstsein ist etwas anderes. Meines Erachtens müssen daraus Werteentstehen. Wenn die Yrr eine bewusste Intelligenz darstellen, müssen sie zumindest einen Wert anerkennen, nämlich den des Lebens. Und das tun sie, denn sie versuchen, sich zu schützen. Also haben sie Werte. Die Frage ist also, ob es irgendwo vielleicht doch eine Schnittmenge mit menschlichen Werten gibt, und sei sie noch so klein.«
Crowe nickte.
»Ja«, sagte sie. »Und sei sie noch so klein.«
Am späten Nachmittag schickten sie den ersten, gebündelten Schallimpuls in die Tiefe. Sie wählten einen Frequenzbereich, den Shankar festgelegt hatte und der im Spektrum des unidentifizierten Geräuschs lag, das die SOSUS-Leute Scratch getauft hatten.
Das Modem modulierte die Frequenz. Das Signal wurde hier und da zurückgeworfen, es kam zu Interferenzen. Crowe und Shankar saßen im CIC und modulierten wiederum die Modulationen, bis sie zufrieden waren. Nach einer Stunde war Crowe sicher, dass die Botschaft für jemanden, der Schallwellen verarbeiten konnte, eindeutig zu verstehen war. Ob die Yrr einen Sinn darin entdecken würden, stand auf einem anderen Blatt.
Und ob sie es für notwendig erachten würden, darauf zu antworten.
Crowe saß im dämmrigen CIC auf der Kante ihres Sessels und empfand ein seltsames Hochgefühl bei dem Gedanken, wie nah sie plötzlich dem Kontakt war, den sie jahrzehntelang herbeigesehnt hatte. Zugleich empfand sie Furcht. Sie spürte eine erdrückende Verantwortung auf sich und den Mitgliedern der Expedition lasten. Das hier war kein Abenteuer wie
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