Der Schwarm
Er war sich vorgekommen wie eine Laborratte. Die beiden Wale hatten ihn mit einer Ruhe und Gründlichkeit unter die Lupe genommen, als liege er auf dem Seziertisch.
Waren es Kundschafter?
Um was auszukundschaften?
Abwegig!
Er schloss die Kasse und trat nach draußen. Die Touristen hatten sich am Ende des Piers versammelt. Sie sahen aus wie ein Spezialkommando in ihren orangefarbenen Ganzkörperanzügen. Anawak sog die frische Morgenluft in sich hinein und folgte ihnen.
Hinter sich hörte er jemanden im Laufschritt näher kommen.
»Dr. Anawak!«
Er blieb stehen und wandte den Kopf. Alicia Delaware tauchte neben ihm auf. Sie hatte die roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine modische blaue Sonnenbrille.
»Nehmen Sie mich mit?«
Anawak betrachtete sie. Dann sah er hinüber zum blauen Rumpf der Blue Shark.
»Wir sind voll besetzt.«
»Ich bin den ganzen Weg gerannt.«
»Tut mir Leid. In einer halben Stunde fährt die Lady Wexham. Die ist viel komfortabler. Groß, beheizte Innenkabinen, Snackbar ....«
»Will ich nicht. Sie haben doch sicher noch irgendwo einen Platz. Hinten vielleicht!«
»Wir sind schon zu zweit in der Kabine, Susan und ich.«
»Ich brauche keinen Sitzplatz.« Sie lächelte. Mit ihren großen Zähnen sah sie aus wie ein sommersprossiges Kaninchen. »Bitte! Sie haben doch keinen Grund, sauer zu sein, oder? Ich möchte wirklich gerne mit Ihnen rausfahren. – Eigentlich nur mit Ihnen, um ehrlich zu sein.«
Anawak runzelte die Stirn.
»Gucken Sie nicht so!« Delaware verdrehte die Augen. »Ich habe Ihre Bücher gelesen und bewundere Ihre Arbeit, das ist alles.«
»Den Eindruck hatte ich nicht.«
»Kürzlich im Aquarium?« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schwamm drüber. Bitte, Dr. Anawak, ich bin nur noch einen Tag hier. Sie würden mir eine Riesenfreude machen.«
»Wir haben unsere Bestimmungen.« Es klang lahm und kleinkariert.
»Hören Sie mal, Sie sturer Hund«, sagte sie. »Ich bin nah am Wasser gebaut. Ich warne Sie. Wenn Sie mich nicht mitnehmen, werde ich den ganzen Flug zurück nach Chicago in Tränen aufgelöst sein. Wollen Sie das verantworten?«
Sie strahlte ihn an. Anawak konnte nicht anders. Er musste lachen.
»Schon gut. Kommen Sie meinethalben mit.«
»Wirklich?«
»Ja. Aber gehen Sie mir nicht auf die Nerven. Behalten Sie vor allem Ihre abstrusen Theorien für sich.«
»Es war nicht meine Theorie. Es war die Theorie von ...«
»Am besten halten Sie einfach möglichst lange den Mund.«
Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich anders und nickte.
»Warten Sie hier«, sagte Anawak. »Ich hole Ihnen einen Overall.«
Alicia Delaware hielt ihr Versprechen ganze zehn Minuten. Die Häuser von Tofino waren kaum hinter dem ersten bewaldeten Berghang verschwunden, als sie neben Leon trat und ihm die Hand hinhielt.
»Nennen Sie mich Licia«, sagte sie.
»Licia?«
»Von Alicia, aber Alicia ist ein dämlicher Name. Finde ich. Meine Eltern fanden das natürlich nicht, aber man wird ja nicht gefragt, wenn sie einem Namen geben, es ist immer so peinlich hinterher, zum Kotzen. Sie heißen Leon, stimmt's?«
Er ergriff die ausgestreckte Rechte. »Freut mich, Licia.«
»Gut. Und jetzt sollten wir kurz noch was klären.«
Anawak blickte Hilfe suchend zu Stringer, die das Zodiac steuerte. Sie sah zurück, zuckte die Achseln und widmete sich wieder dem Kurs.
»Was denn?«, fragte er vorsichtig.
»Wegen neulich. Ich war doof und besserwisserisch am Aquarium. Es tut mir Leid.«
»Schon vergessen.«
»Aber du musst dich auch entschuldigen.«
»Was? Wieso denn ich?«
Sie senkte den Blick. »Es war okay, mir vor anderen Leuten die Meinung zu geigen, aber nicht, etwas über mein Aussehen zu sagen.«
»Ich habe nicht...« Zum Teufel.
»Du hast gesagt, ein Beluga, der mir beim Schminken zusieht, müsse an meinem Verstand zweifeln.«
»Das war nicht meine Absicht. Es war ein abstrakter Vergleich.«
»Es war ein blöder Vergleich.«
Anawak kratzte seinen schwarzen Schopf. Er hatte sich über Delaware geärgert, weil sie seiner Meinung nach mit vorgefassten Argumenten ins Aquarium gekommen und sich durch Ignoranz ausgewiesen hatte. Aber vermutlich war er nicht weniger ignorant gewesen. Und ganz sicher hatte er sie in seiner Wut beleidigt.
»Gut. Ich entschuldige mich.«
»Angenommen.«
»Du berufst dich auf Povinelli«, stellte er fest.
Sie lächelte. Mit diesen Worten hatte er ihr signalisiert, dass er sie ernst nahm. Daniel Povinelli
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