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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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keine Antwort.
     
    Nachdem er sich angezogen hatte, führten ihn die beiden Frauen aus der Badekammer durch einen hohen, breiten Gang, dessen Decke Martin trotz des Scheins der vielen Fackeln nicht deutlich erkennen konnte. Bisweilen erschien sie ihm unmöglich hoch – ein zweiter Himmel innerhalb des Himmels –, dann wieder drohte sie auf ihn herabzustürzen und ihn zu erdrücken. Es mussten die Lichtreflexe der vielen Edelsteine und der verschwenderischen Goldauflagen sein, die dieses Gefühl der Ungewissheit erzeugten.
     
    Schließlich betraten sie ein Zimmer, dessen Prunk alles in den Schatten stellte, was Martin sich je hätte vorstellen können. Die Wände waren verspiegelt und warfen das Licht Tausender Kerzen, die in Haltern in diesen Spiegeln steckten, unendlich oft zurück; der ganze Raum schien in Flammen aufzugehen. Der Boden bestand aus durchsichtigem Bergkristall, in den Blumen und Pflanzen, ja sogar ganze Bäume eingeschlossen waren, und die gewölbte, vielfach gerippte Decke war reiner Bernstein. Es befanden sich Einschlüsse in ihm, aber es waren keine Tiere, sondern Sterne, die sanft durch das Gelb des Bernsteins glühten.
     
    Bei diesem Anblick war sich Martin gewiss, dass er nicht mehr auf der Erde weilte. Als die beiden Dienerinnen wortlos gegangen waren, kniete er sich auf den kalten Bergkristall und senkte den Blick. Er stotterte ein Dankgebet und versuchte, sich auf die erste Begegnung mit seinem Herrn und Richter vorzubereiten. Dabei verlor sich sein Blick immer wieder in die unendlich scheinenden Tiefen des Kristalls unter ihm, zu den Blumen und Bäumen, die sich tiefer und tiefer hinab in den Boden bohrten und sich in gleißenden Tiefen verloren. Dann schaute er auf.
     
    Er war nicht mehr allein in dem Raum. Beinahe hätte sein Herzschlag ausgesetzt. Er lächelte über diesen Gedanken. Trotzdem fasste er sich kurz an die Brust.
     
    Ganz deutlich spürte er, wie sein Herz schlug.
     
    Aus den Tiefen des Raumes, in dem jede Begrenzung durch die unzähligen Spiegel aufgebrochen war, näherte sich ihm jemand. Wieder neigte er in Demut das Haupt. Er verharrte in kniender Haltung.
     
    Die Gestalt war hochgewachsen und trug eine einfache, staubige Kutte. Es war ein Mann.
Seltsam,
dachte Martin,
ich hatte mir Gott immer mit einem gewaltigen Bart vorgestellt – mit einem Bart, den wir Mönche nicht tragen dürfen. Doch er ist glatt rasiert. Und er trägt die schwarze Kutte des Benediktinerordens.
Martin schluchzte. Dass Gott Martins Orden eine so große Aufmerksamkeit zollte, war einfach zu viel für ihn. Es bedeutete, dass Martin sich in seinem Leben für das Richtige entschieden hatte.
     
    »Steh auf!« Die Stimme klang weit entfernt und wie durch ein Tuch hindurch.
     
    Martin gehorchte, aber er wagte es noch nicht, den Blick zu heben.
     
    »Sieh mich an!«
     
    Martin gehorchte abermals, wenn auch zögernd. Er fürchtete, durch den Anblick Gottes verbrannt zu werden. Doch dann sah er ihn an.
     
    Mein Gott! Das konnte nicht sein! Das war unmöglich! Oder?
     
    Martin schaute auf sein eigenes Spiegelbild. Er selbst war es, der diese Kutte trug; er selbst war es, der da mit seiner eigenen Stimme zu ihm sprach. Er besaß noch seinen tonsurierten, schwarzen Haarschopf, und sein Gesicht war glatt rasiert. Es war ein Bild aus seiner eigenen Vergangenheit.
     
    Warum kam er nicht näher? Als Martin vorsichtig einen Schritt auf ihn zu machte, wich sein Ebenbild zurück in die Tiefe des Raumes. »Du kannst mich nicht erreichen«, sagte es.
     
    Dann verstand Martin. Was er sah, war nichts anderes als ein Spiegelbild!
     
    »Nein!«, sagte das Spiegelbild. »Nicht ich bin es, der im Spiegel steckt. Du bist es.«
     
    »Wer … wer bist du in Wirklichkeit?«
     
    »Wirklichkeit? Was ist das? In einem anderen Leben hast du mich getötet, und in diesem Leben bist du selbst tot. Der Tausch hat dich noch nicht stark genug gemacht.«
     
    »Du bist nichts anderes als ein dämonisches Gaukelbild!«, schrie er. »Verschwinde! Du hast im himmlischen Jerusalem nichts zu suchen!«
     
    Und tatsächlich verblasste die Erscheinung und verschwand. Martin atmete auf. Der unendliche Raum war wieder leer – leer außer ihm selbst, der sich tausendfach von den Spiegeln herab verständnislos ansah. Nicht einmal mehr die Tür konnte er sehen. Es war, als sei er zu weit in diesen unmöglichen Raum hineingewandert. Er machte ein paar Schritte; dann blieb er stehen. All die anderen Martins blieben ebenfalls

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