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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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stehen.
     
    Alle bis auf einen.
     
    Er schwang zur Seite und verwandelte sich in eine Gestalt mit einer weißen, fußlangen Robe. Diese Gestalt kam auf ihn zu. Erst als der zur Seite geglittene Martin wieder an seine alte Stelle rückte, begriff der echte Martin, dass er soeben gesehen hatte, wie einer der Spiegel sich gedreht hatte und jemand dahinter hervorgetreten war.
     
    Es war abermals eine Frau, und sie war noch schöner als die beiden, die ihn gebadet hatten. Sie hatte hohe Wangenknochen und weit auseinanderstehende Augen. Diese Augen! Sie stürzten Martin in ein Meer der Wirrnis, der Freude, Angst, Hoffnung, des Verlangens und Versagens. Ihre Augen waren gelb wie jene der Vision, die in auf der Bühne in den Schlund der Apokalypse gezerrt hatte. Wo war das gewesen? In einem anderen Leben …
     
    »Willkommen!«, sagte die Frau und verneigte sich leicht vor ihm. Sie war genauso groß wie er. »Willkommen, Bruder Martin.«
     
    Woher kannte sie seinen Namen?
     
    »Ich hoffe, meine Dienerinnen haben es dir so angenehm wie möglich gemacht.«
     
    »Wer … wer bist du?«, fragte er nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Tag. Er hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Nirgendwo gab es ein Fenster. Nichts war sicher hier, nichts war verlässlich – nicht Tod, nicht Leben. Fegefeuer? Nichts.
     
    »Ich freue mich, dass du bei mir bist«, sagte die wunderschöne Frau mit den gelblichen Augen.
     
    »Wie bin ich hergekommen?«
     
    »Weißt du nicht mehr, dass du verwundet wurdest?«, fragte die verstörend schöne Frau und lächelte ihn sanft an.
     
    »Verwundet? Ja, ich erinnere mich. Federlin hat mir mit einer Keule eins übergezogen. War es denn so schlimm?«
     
    Sie lächelte noch immer. »Meine Dienerinnen haben dich zu mir gebracht. Hier kannst du dich von den Mühsalen deines irdischen Daseins ausruhen.«
     
    »Bin ich tot?«
     
    »Tot?« Ihr Lächeln wurde breiter. »Ja, so kann man sagen.«
     
    »Wo bin ich?«
     
    »Dort, wo du immer sein wolltest.«
     
    »Im Paradies?«
     
    »Ja, im Paradies. In deinem Paradies.«
     
    Martin verstand sie nicht. »Heißt das, dass es verschiedene Paradiese gibt?«
     
    »Aber natürlich.« Die wunderschöne Frau schien belustigt zu sein.
     
    »Wie viele?«
     
    »Genauso viele, wie es Menschen gibt.«
     
    Martin wurde nicht schlau aus ihr. Wer war sie? Einer der Engel, die das Paradies bewachen? Aber der Genesis zufolge sollten es doch Kerubim mit flammenden Schwertklingen sein. Die Kerubim waren die obersten Engel; sie hatten – zumindest den approbierten Darstellungen zufolge – sechs Flügel, die wiederum mit Augen bedeckt waren. Diese Frau aber sah aus wie eine irdische Frau.
     
    »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte sie, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Mein wahrer Anblick ist für die Menschen zu furchtbar.«
     
    »Also ist es doch wahr!«
     
    »Aber ja! Alles, was geschrieben steht, ist wahr – wahrer als das Leben selbst.«
     
    »Dann bewachst du die Pforte zum Paradies?«, fragte Martin hoffnungsvoll. Er betete darum, dass diese Frage nicht bereits blasphemisch war.
     
    »Nein«, antwortete die Frau.
     
    Martin sah sie mit großen Augen an. »Aber … aber … es steht geschrieben …«
     
    »Ich bewache nicht die Pforte; ich bin die Pforte. Eine Pforte.«
     
    »Aber wo ist dann das Paradies?«
     
    »In dir und in mir.«
     
    War dies die Prüfung, die den verstorbenen Seelen auferlegt wurde? Martin spürte, wie sich Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Tat er das Richtige? Stellte er die richtigen Fragen? »Und wie komme ich in das Paradies?«
     
    »Du musst durch die Pforte gehen.«
     
    »Wie soll ich das machen, wenn du diese Pforte bist?«
     
    »Willst du es wissen?«
     
    »Ja.«
     
    »Wirklich?«
     
    »Ja.« Martin wurde immer heiserer.
     
    »Sieh her.« Sie löste den juwelenbesetzten Gürtel und zog sich das faltenreiche Gewand über die Schultern. Mit einem seidigen Rascheln fiel es zu Boden. Sie stieg über es hinweg und stand nun so nahe vor Martin, dass ihre steif aufgerichteten Brustwarzen seine eigene Brust berührten. Ihr Atem strich ihm über die Wangen. Er roch nach Lilien und Veilchen.
     
    Martin schwitzte immer stärker. Verlangen und Angst prallten aufeinander. War das, was diese Frau vorhatte, nicht verboten? War alles Geschlechtliche nicht sündhaft und damit teuflisch? Wie konnte es dann der Eingang zum Paradies sein? Es war der Eingang zur Hölle und sonst nichts! Martin hob die

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