Der schwarze Atem Gottes
hörte man etwas wie Donnergrollen. Sollte es wirklich nur ein heraufziehendes Gewitter sein? Das Grollen indes klang seltsam – lang gezogen, fast wie eine Klage.
Der Trödler schien denselben Gedanken zu haben. »Wie ein Kaddisch«, murmelte er, »wie ein Totengebet. Aber Ihr spracht von den Sefiroth. Nein, zur Schau Gottes braucht man sie nicht, obwohl es nicht an Stimmen fehlt, die den Weg des Mystikers mit den Sefiroth verbinden wollen. Aber das ist reine Magie. Außerdem weiß niemand ganz genau, was diese Sefiroth sind. Sie leben und sie leben nicht. Sie sind Kanäle und gleichzeitig Intelligenzen. Sie sind der Weg Gottes zu unserer Welt – aber können sie umgekehrt auch der Weg des Menschen zu Gott sein? Wohlgemerkt: zu Gott selbst und nicht nur zur Gottesschau im Sinne der MerkabaMystik. Ich glaube, dass wir uns nun dem nähern, was Wolf Auerbach wollte.« Der Trödler lächelte Hilarius an.
»Er wollte zu Gott?«, fragte der Pater.
»Man könnte die dunklen Reden, die er mir gegenüber geführt hat, so auffassen. Ich habe wirklich den Eindruck, dass ihm die Schau Gottes im Sinne der MerkabaMystik gelungen ist. Das allein ist bereits ein Wunder, doch die Schau reichte ihm nicht. Er wollte zu Gott gehen, wollte mit ihm reden und ihn nicht nur ansehen. Und er wollte einen Teil Gottes mit nach hier bringen, anstatt untätig auf den Messias zu warten. Es ist nicht undenkbar, dass er einen Weg gefunden hat, das Tor der niedersten Sefira – Malkuth – zu öffnen, um durch sie hindurch den Baum der Sefiroth hinaufzukriechen, wenn ich mich dieses materiellen Bildes bedienen darf, das natürlich nicht korrekt ist.«
»Und – ist es ihm gelungen?«, fragte Hilarius atemlos. Er spürte eine Bewegung auf seinem Bauch. Der Zwilling regte sich. Als ob das Gespräch nun auch für ihn interessant würde!
»Wenn ich nach dem Eindruck gehen darf, den Wolf Auerbach auf mich gemacht hat: nein. Irgendetwas muss entsetzlich schiefgegangen sein. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass man mit Gott nicht spielen darf, dass man ihn nicht versuchen oder zwingen darf, denn Gott ist nicht nur unendliche Güte, sondern auch deren Gegenteil. Er ist ein zorniger Gott, wie Ihr es überall in der Thora lesen könnt.«
»Was ist mit Auerbach geschehen?«, fragte Federlin.
Der Trödler zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Eines Tages kam er nicht mehr her. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. Und seitdem mehren sich die dunklen Vorzeichen und das Böse – nicht nur in unseren kleinen und verwinkelten Gassen, sondern auch draußen bei den Christen, denn unser Gott ist der Gott der ganzen Welt.«
»Hast du eine Ahnung, wo wir Auerbach finden können?«
Wasserbaum schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gut, ihn zu suchen. Mischt euch nicht in Dinge ein, die ihr weder versteht noch beherrschen könnt.«
»Lass das unsere Sorge sein«, sagte Federlin darauf mit einer bissigen Härte, die Hilarius aufhorchen ließ. Selbst Martin, der in die Betrachtung eines Kupferstiches versunken gewesen war, der ein Kalb mit zwei Köpfen zeigte, und immer wieder Seitenblicke zu Hilarius hinüberwarf, und Maria, die in einem Buch mit hebräischen Lettern geblättert hatte, schauten nun den Gaukler verwundert an.
Der Trödler blickte tief in Federlins Augen. »Ich weiß wirklich nicht, wo er steckt«, sagte er mit brüchig gewordener Stimme. Es war, als sei die Last seiner Jahre plötzlich wie eine Felslawine auf ihn niedergeprasselt. »Aber ich weiß, dass er manchmal von einem Rabbi gesprochen hat, mit dem er die eine oder andere unklare Stelle im Sefer Jezirah oder im Schi’ur Koma diskutiert hat.«
»Wie heißt dieser Rabbi, und wo können wir ihn finden?«, fragte Federlin. Seine Stimme war zwar noch immer befehlend, aber der scharfe Unterton war verschwunden.
»Es ist Rabbi Abraham Lurja, und er wohnt am Zigeunerplatz. Ihr könnt das Gebäude nicht verfehlen. Es trägt einen Bären als Hauszeichen.«
»Unser Dank wird dir gewiss sein«, sagte Federlin. »Komm, Hilarius, wir müssen aufbrechen.« Er eilte aus dem Trödelladen, ohne sich umzusehen, ob ihm jemand folgte. Hilarius erhob sich seufzend, nickte dem Trödler freundlich zu – eigentlich war er doch ein hochinteressanter und beeindruckender Mann – und gab Martin und Maria einen Wink, auf dass sie ihm folgten.
Sie hatten schnell zu Federlin aufgeschlossen und liefen kreuz und quer durch die
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