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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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herabregnen. Und in den Staubflocken regten sich die Fratzen. Aber sie verblassten rasch wieder.
     
    Federlin packte ihn unter den Achseln und stellte ihn auf die Beine. Nach einigen Schritten, bei denen der Gaukler ihn gestützt hatte, konnte er allein gehen. Er atmete tief durch. Machte weitere Schritte in dem dunklen Zimmer. »Ja, ich glaube, es geht«, sagte er.
     
    »Gut«, meinte Federlin. »Los!« Er ging aus dem Zimmer und öffnete die Tür. Wieder drang nur blasses Licht hinein. Der Gaukler kam zurück, löschte die Kerze und half Hilarius. Martin und Maria folgten den beiden schweigend.
     
    Draußen war es merkwürdig dunkel. Die Sonne war nicht zu sehen. Hilarius sah Federlin fragend an. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, flüsterte der Gaukler dem Pater ins Ohr.
     
    Hilarius hörte, wie Martin hinter ihm zu Maria sagte: »Allein mir hast du es zu verdanken, dass du gerettet worden bist. Die beiden da vorn hätten dich brennen lassen. Wenn ich nicht so schlau gewesen wäre und ihnen den Namen des Kabbalisten nur unter der Bedingung versprochen hätte, dass du befreit wirst, wärst du jetzt schon tot.«
     
    »Ohne deine Besagung wäre ich schon längst in Freiheit gewesen!«
     
    »Das glaubst du wohl selbst nicht! Du hast doch gesehen, wie es bei einem Hexenprozess zugeht, oder?«
     
    Die beiden verstummten.
     
    Als sie aus dem Blinden Gässchen herauskamen, brandete die Geschäftigkeit des Ghettos wie eine Welle gegen sie an. Einige Reiter preschten in der kaum breiteren, aber vor Menschen wogenden Pinkasgasse vorbei, aber hauptsächlich sah man Fußgänger – mit und ohne Karren und Säcken und Beuteln und allerlei Traggestellen. Hilarius bemerkte die vielen Blicke, die ihn trafen – unangenehme Blicke, die seine schwarze Benediktinerkutte aufzufressen schienen. Die Büßergewänder von Martin und Maria hingegen erregten erstaunlicherweise weniger Aufsehen; ja manche Passanten schauten die beiden sogar aufmunternd an. Überall standen Grüppchen herum und tuschelten auf jiddisch oder hebräisch; manchmal zeigten sie in den Himmel, der immer noch so dunkel wie in der Abenddämmerung war, und manchmal hinaus auf das Gebiet jenseits der Judenstadt.
     
    »Ja, diesen Tag wird hier niemand vergessen«, murmelte Federlin noch einmal, doch jetzt klang er zweifelnd und sogar ängstlich. »Wir sollten dir etwas anderes zum Anziehen besorgen«, sagte er zu Hilarius und zerrte ihn immer weiter durch die wirbelnden Gassen. »Vielleicht können wir das mit unseren ersten Nachforschungen verbinden. Ich kenne da einen Trödler in der Galligasse, der immer einige ordentliche Kleider vorrätig hat – und auch immer ein paar gute Informationen, mit denen er eigentlich hauptsächlich handelt.«
     
    Diese abgerissenen Männer mit ihren biblischen Bärten und den seltsamen Kappen auf dem Kopf, diese verwirrend schönen und doch so fremd wirkenden Frauen, deren Dunkelheit anziehend wie ein verdunkeltes Hochzeitslager war, diese fremdartige Sprache, die doch mit so vielen vertraut klingenden Worten durchsetzt war – all das verstörte Hilarius beinahe mehr als das, was mit ihm geschah. Das hier war sein Volk, das hier war seine eigentliche Heimat. Das, was er von Anfang an zu hassen gelernt hatte. Und er sah, wie sein Hass erwidert wurde, wie die Leute sein Habit mit ihren Blicken bespuckten und seine Tonsur mit hämischen Augenzungen beleckten.
     
    In der ruhigeren Galligasse reihte sich Kramladen an Kramladen. Hier waren die Häuser niedrig, hatten meist nur ein oder zwei Stockwerke und kleine Vordächer, unter denen sich das Angebot aus den Läden bis hinaus auf die Straße schob. Hilarius konnte kaum mehr laufen. Die Füße schmerzten ihm, und außerdem regte sich der Zwilling wieder. Das dunkle Wolkentuch lag immer noch über der Stadt, über der Judenstadt, doch was war das für eine Stadt!
     
    Die Steine schrien.
     
    Die Dachschindeln rissen die Mäuler auf.
     
    Das Katzenkopfpflaster zuckte wie in Krämpfen.
     
    Hilarius wurde schwindlig; Federlin stützte ihn. »Ist er wieder aufgewacht?«, fragte er mitfühlend. Hilarius nickte stumm.
     
    Menschen?
     
    Die Lebewesen in dieser Gasse waren keine Menschen, genauso wenig wie Federlin oder Martin oder Maria, die sich inzwischen schmollend anschwiegen. Es waren Wesen aus Stein und Schlamm und Erde und manchmal auch aus Blumen und Blüten. Hilarius schloss die Augen, doch der Anblick verschwand nicht. Er hörte, wie Federlin sagte: »Hier ist es«, dann

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