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Der schwarze Atem Gottes

Der schwarze Atem Gottes

Titel: Der schwarze Atem Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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öffnete er die Augen wieder.
     
    Ein Wirrwarr aus Formen und Staub und glitzernden Spinnweben, aus Belebtem und Unbelebtem, aus Bewegung und Erstarren. Der alte Pater schüttelte den Kopf, als könne er so Ordnung in den Wirrwar der Eindrücke bringen. Aus ihm löste sich ein steingemeißeltes Gesicht, dessen Runzeln sich wie Spinnweben um die Augen, die Nase, den Mund und über die Wangen spannen. Ein dünner, weißer Bart erinnerte an eine Ziege. Die Gestalt trug ein graues Gewand, das bis auf den Boden reichte und einer Büßerkutte nicht unähnlich war, und eine schwarze Kappe auf dem Kopf, unter der einige Strähnen schütteren weißen Haars hervorlugten.
     
    »Schnell, Aaron, einen Stuhl«, hörte er Federlins Stimme. Hilarius spürte, wie er sanft gezwungen wurde, sich niederzulassen, und er spürte das harte Holz unter seinem Hintern. Dann klarte sich sein Blick wieder auf. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Gott sei Dank!
Welchem Gott?,
zischelte eine Stimme im Hintergrund seiner Gedanken.
Deinem oder ihrem? Und: Wer ist deiner?
     
    »Das ist Aaron Wasserbaum, Pater«, stellte Federlin den Trödler vor, der älter als die Gesamtheit seiner Waren zu sein schien. Der Jude lächelte; das Netz seiner Falten vergrößerte sich dabei beträchtlich. Er streckte eine gelbe Hand gegen Hilarius aus, der sie kurz schüttelte. Der Griff des Trödlers war erstaunlich fest.
     
    »Dieser Pater hier ist kein Pater«, erklärte Federlin. »Er braucht dringend unauffällige Kleidung. Hast du etwas Passendes vorrätig?«
     
    »Aber natürlich!« Wasserbaum verschwand in den Tiefen seines schlauchartigen Ladens, und Hilarius versuchte, das wirre Durcheinander von Gerümpel und Gekrempel für sich zu ordnen. Schalen, Leuchter, Stoffe, Bänke, Tische, Stühle und Stuhlbeine, Holzschnitte – auf einem, der rechts von ihm mit Reißzwecken an der Wand hing, erkannte Hilarius die vier apokalyptischen Reiter; sie waren mit »AD« monogrammiert –, seltsame Masken, Räuchergefäße, Bücher, Pokale, Umhänge …
     
    Der Trödler kam mit einem ganzen Armvoll Kleidung zurück und hielt sie Hilarius lächelnd vor.
     
    »Kann ich mich irgendwo ungestört umziehen?«, fragte er.
     
    »Aber natürlich. Kommt mit nach hinten; da ist eine kleine Kammer.«
     
    Federlin half Hilarius bei der nicht ganz ungefährlichen Durchquerung des Ladens, dessen heilloses Durcheinander wie absichtlich gestellte Fallen wirkte. Als Hilarius glücklich die Kammer erreicht hatte, bedeutete er Federlin, dieser solle davor warten. Dann warf Hilarius die Tür zu und zog seine schmutzige Kutte aus.
     
    Er stöhnte und schaute an sich herab.
     
    Dunkelblaue Adern liefen über den kahlen Kopf auf seinem Bauch. Er sah die knollenartige Nase, die ganz leicht über den gewölbten Schädel hinausragte. Die Augen blieben ihm gnädigerweise verborgen; der Kopf hing schlaff herab. Er träumte seine wirren, schwachen, dunklen Träume, von denen nur Fetzen bis in das Bewusstsein des Paters drangen. Vorsichtig betastete er die geäderte Kopfhaut. Sie fühlte sich ungeheuer glatt an, wie poliert. Und weich. Angewidert nahm Hilarius die Finger fort und beeilte sich, aus den Kleidungsstücken, die ihm der Trödler angeboten hatte, einige auszuwählen, die nicht allzu sehr über dem unförmigen Bauchgewächs spannten. Schließlich nahm er ein viel zu weites Hemd, einen Ledergurt, den er lose darumschlang, dann einen Überrock mit ungeheuer vielen Knöpfen, der bis knapp über die Knie reichte, und eine Pluderhose, die unter dem Knie gebunden wurde, sowie hohe, weiße Strümpfe und elegante, aber schon etwas abgetragene Lederschnürschuhe. Als Letztes entschied er sich für einen Umhang, der noch etwas länger als der Überrock war und aus feiner, aber leicht fadenscheiniger Seide bestand. Er traute sich nicht mehr, den zweiten Kopf festzubinden, wie er es getan hatte, als sein Zwilling noch nicht gelebt hatte, denn er hatte Angst vor zornigen Reaktionen seines fleischgewordenen Fluchs.
     
    Vorsichtig stand er auf und betrachtete sich in einem erblindenden Spiegel, der in einer Ecke der kleinen Kammer gegen die Wand lehnte. Eigentlich gefiel er sich gar nicht so übel. Nun fehlte noch eine Kopfbedeckung, um die Tonsur zu verstecken. Hilarius nahm eine eng anliegende Kappe, wie er sie bereits bei vielen Juden gesehen hatte. Jetzt war die Verkleidung komplett.
     
    Verkleidung? War nicht seine Mönchskutte vielmehr eine Verkleidung gewesen? Nur der fehlende

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