Der schwarze Krieger
Dann rief er weinend: «Mein Bruder», und wiegte den Kopf seines Königs in den Armen. Attilas Atemging schwer und hörte sich entsetzlich an, sein Gesicht war gelbgrün.
Eine Besucherin jedoch ließ sich nicht abschrecken. Auf ihren Stock gestützt, kam sie durch das Lager gehumpelt, einen Krug mit Wasser in der Hand. Sie achtete nicht auf Fragen und Warnrufe. Es war die alte Priesterin aus dem Dorf.
«Woher wusstest du, dass er krank ist?», fragte Orestes.
«Ich sah es im Traum», sagte sie leicht verärgert, «was dachtest du denn? Und nun aus dem Weg!»
Sie sprach mit leiser Stimme zum König und nahm ihm die Verbände ab.
Mit dem Kopf wies sie auf den Krug, den sie mitgebracht hatte. «Von dem See», erklärte sie. «Es schmeckt nicht, aber es heilt alle Wunden und vertreibt alle äußerlichen Entzündungen.» Sie grinste mit dem einen ihr noch verbliebenen Zahn. «Gott weiß, was er hineingetan hat!» Dann wusch sie seine Wunden.
Orestes schnupperte vorsichtig an dem Wasser. «Salze», murmelte er. «Salzhaltige Bestandteile, regenerierende Substanzen …»
Die Priesterin sah ihn misstrauisch an. «Lange Worte werden deinem Herrn jetzt nicht helfen. Reiche mir diese Wickel!»
Die Wunden schienen dank der Behandlung der alten Priesterin rasch zu heilen, doch das Fieber hielt sich, und der König wurde schwächer. Die alte Frau blieb bei ihm und betete tagaus, tagein unermüdlich für ihn. Orestes gestattete es.
Nun gab es unter den Kutrigurischen Hunnen die Hexe Enkhtuya, eine Zauberin, Seherin und Schlangenbeschwörerin.
Eines Abends saßen Orestes und Kleiner Vogel bei ihrem sterbenden König. Das Feuer in der Mitte des Zelts brannteschwach. Und dann stand sie vor ihnen, lächelnd. Dunkel schimmerte ihre Haut im Feuerschein.
Als Kleiner Vogel sie erblickte, gebärdete er sich wie ein Verrückter. Er zischte und wimmerte und sprang so heftig auf, dass sein dreibeiniger Hocker umkippte. Er schrie und sprang auf und ab, hielt inne und starrte sie an, um gleich darauf wieder zu schreien und erregt hin und her zu hüpfen. «Hinaus mit dir! Hinaus!», brüllte er. Doch Enkhtuya stand nur da und lächelte immer mehr.
Kleiner Vogel rannte zurück, zerrte an Attilas Arm und schrie, dass man sie hinauswerfen, sie töten müsse, in ihren Augen schimmere Eisen wie bei einer Schlange, und auch ihre Eingeweide seien ein verworrenes Schlangennest. «Hört auf mich, nicht auf sie, hört auf mich!», schrie er, den Mund ganz dicht an Attilas Ohr. «Sie wird euch nicht heilen! Sie bringt nur Verderben! Werft sie hinaus, sage ich, oder die Schlange von Anashti wird euch verschlingen, euch und euer Volk!»
Attila brummte: «Schafft die Hexe hinaus.»
«Die Zeit wird kommen, und zwar schon bald», orakelte Enkhtuya mit ihrer seltsamen Stimme, die hoch und durchdringend war wie die eines Insekts. Sie griff mit ihren Fingern wie mit Klauen in die Luft, während sie hinausbugsiert wurde. «Die Zeit wird kommen», rief sie noch einmal, «und du wirst mir Gehör schenken!»
Und es kam, wie von Enkhtuya vorhergesagt. Noch zweimal erschien sie im Zelt des Königs, und jedes Mal war Attila dem Tod ein Stück näher. Am dritten Tag befahl er nicht mehr, sie wegzuschicken. Kleiner Vogel geriet völlig außer sich.
Orestes sprang auf und zerrte den Schamanen weg. Kleiner Vogel versuchte, ihn auf die Schienbeine zu treten, dochOrestes hielt ihn im Schraubgriff und zog ihn schmerzhaft an den verdrehten Armen hoch. Dann ließ er ihn auf den staubigen Boden plumpsen.
«Friede, du Narr», knurrte er. «Gönne deinem Herrn ein wenig Ruhe.»
Doch Kleiner Vogel ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Er lag da, zeternd vor Ärger und Furcht, zusammengekauert wie ein ungeborenes Kind. Orestes verpasste ihm einen Tritt, sodass der kleine Schamane aufsprang, zum Zeltausgang rannte, dort stürzte und hinausrobbte.
Orestes sah wieder zu der Frau hinüber. Sie war ihm schon früher aufgefallen, als sie zwischen den Zelten hindurchging, und er hatte sich gefragt, wer sie wohl sei. Sogar Attila wandte ihr jetzt den Kopf zu, ganz fahl, dünn und schweißgebadet.
Sie war eine außergewöhnliche Erscheinung: sehr groß – größer als die meisten Männer ihres Stammes – und dünn wie ein Strich. Ihr gelbbraunes Haar, vielleicht war es auch gefärbt, war mit Harz eingerieben und auf ihrem schmalen Kopf zu einem Knoten gebunden, was sie noch größer wirken ließ. Ihre Wangenknochen waren scharfkantiger als die einer Leiche, ihre
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