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Der schwarze Krieger

Der schwarze Krieger

Titel: Der schwarze Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Napier
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weiten, schwellenden Flüsse unter den tief am Himmel treibenden Herbstwolken. Nach vielen Wochen erreichten sie die Kharvad-Berge, die von den gotischen Völkern Harvaxa und von den Römern Karpaten genannt wurden. Während der ersten Schneefälle gelangten sie über jäh abfallende, dunkle und steinige Pässe. Die Viehtreiber und Rinderzüchter beschwerten sich bereits bitterlich, dass das Jahr für eine so lange Reise in diesem Landstrich zu weit fortgeschritten sei, sie hätten anhalten und östlich der Berge eine geeignete Winterweide finden sollen. Aber Attila und einige seiner Männer, die während der legendären Zusammenführung der Stämme mit ihm Gebirge durchquert hatten, die weitaus gewaltiger waren als diese, lächelten nur. Sie kannten Schlimmeres. Und er trieb sie weiter ohne Erbarmen. Nie gab es auch nur einen Augenblick Rast, alles war von seiner grimmigen, ruhelosen, rachedurstigen Kraft bestimmt.
    Rinder stolperten und stürzten am Wegrand, wo sie entwederwieder auf die Beine gepeitscht oder zurückgelassen wurden. Die große Kolonne von Männern und Frauen, Kindern und Tieren, knarrenden Ochsenwagen und berittenen Kriegern arbeitete sich unter sanft fallendem Schnee die Pässe hinauf, eingepackt in ihre Wolldecken. Ein Tross, der in gespenstischem Schweigen vorüberzog, jeder Hufschlag, jeder Fußtritt und jedes Geräusch der Wagenräder vom dicken Schnee erstickt. Die Pässe in ihrem Rücken waren von den gekrümmten Kadavern der sterbenden Rinder übersät wie von dunklen Felsbrocken. Die weichen Flocken fielen herab und schmolzen auf ihren noch warmen Körpern.

2.
Das schwachsinnige Kind
    Auf ihrem Weg gelangten sie hinunter in das weite, flache Becken Transpannoniens. Sie steckten jedes elende, armselige Dorf in Brand und trieben die schreienden Bewohner fort in den wirbelnden Schnee. Die meisten Menschen waren allerdings bereits nach Westen geflohen, da ihnen bedrohliche Gerüchte über diesen Vormarsch zu Ohren gekommen waren. Eine fellbekleidete Armee, so verbreitete sich das Lauffeuer, war aus den unheilvollen Kharvad-Bergen, dem Zuhause von Hexen und Werwölfen, das das halbe Jahr in Nebel und Schnee verborgen lag, herabgestiegen. Die Hunnen setzten ihren vernichtenden Zug westwärts fort und vertrieben alle Fremden aus den Ebenen Hungvarias. Sie nannten das Gebiet bereits wieder bei diesem Namen: das Reich der Hunnen, ihre Heimat. Sie zündeten die erbärmlichen Schilfhütten an und trieben die verstörten und verschreckten sarmatischen und ostrogotischen Dorfbewohner von ihren Feuerstellen hinaus in die bitteren Winternächte. Halbnackt flüchteten sie, mit ihren Säuglingen im Arm. Widerstand gab es keinen.
    An einem eiskalten Morgen kehrten sie von einem nächtlichen Überfall zurück, als sie in Resten eines Dorfes, das sie niedergebrannt hatten, ein schwachsinniges Kind entdeckten. Es hockte inmitten der noch rauchenden Asche, um sich zu wärmen, völlig nackt, als nähme es sein Elend gar nicht wahr. Das Kind war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, der Kopf zu groß für den Körper und missgebildet, sein Gesicht mit Ausfluss und Rotz bedeckt, aber, wie es schien, nichtvom Weinen. Seine Oberlippe war schuppig und verkrustet von getrocknetem Schleim, und das Unterlid des einen Auges war infektiös angeschwollen. Man bekam Mitleid, wenn man die Wunden auf seinem Körper und in seinem Gesicht sah. Das Kind saß zitternd im grauen Aschestaub, angebunden wie ein Sündenbock oder wie ein winziger Büßer oder Fürbitter, der dort zusammengekauert Sühne für die Sünden der Welt leistete.
    Wenn die Güte eines Volkes daran gemessen wird, wie es seine Kranken, Verkrüppelten und Verrückten behandelt, dann war dieses Dorf einmal ein gütiges gewesen. Für diese Menschen kam die schnelle Tötung missgestalteter Säuglinge offenbar nicht in Frage, während es bei den Römern üblich war, ein
koprios
, ein Misthaufenkind, wie sie es nannten, in einem alten Weinkrug zu verstecken und dann in einem Misthaufen zu begraben. Ähnlich verfuhren die Spartaner mit ihren Ungewollten und Ausgesonderten: Ihre kränklichen Welpen und Schwächlinge wurden in den Graben neben der Straße nach Messenia geworfen, den sie Apothetae, die Müllhalde, nannten. Dort starben sie inmitten eines Haufens von winzigen Knochen, hilflos blinzelnd vor Durst und dem unvorstellbaren Leid, das sie ihr ganzes kurzes Leben über erfahren hatten. Ohne dass sie in ihrem verkrüppelten Leben einmal nur ein Lächeln, eine

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