Der schwarze Krieger
Verschwinden begriffen. Wohl nie mehr werden wir etwas derart Majestätisches sehen.
Weiterhin besichtigten sie den Tempel der Venus, der Göttin der Liebe und der Schönheit, der mittlerweile eine Basilika war, die der heiligen Barbara, einer Jungfrau und Märtyrerin, gewidmet ist. In der Umgebung raunte man sich zu, dass im Tempelbereich immer noch die alten Riten gefeiert wurden, sehr zum Verdruss der christlichen Behörden, aber mit der stillen Duldung weltlicherer Mächte. Diese stummen Steine, so hieß es weiter, bezeugten die natürliche Urgewalt der alten Götter, die noch viel älter waren als die olympischen Götter, von denen sie abgelöst wurden: Astarte, Atargatis und Baal selbst, der dunkel über seine Anhänger hinwegblickte, zweitausend Jahre bevor Christus auf Erden wandelte.
Vor gerade einmal einem Jahrhundert schrieb Eusebius, dass Männer und Frauen hier vor dem Altar «beieinanderlagen», zu Ehren der Göttin. Ehemänner und Väter gestatteten ihren Frauen und Töchtern, sich öffentlich an Passanten und Gläubige zu verkaufen, um die geheimnisvolle Göttin der Liebe zu ehren, und einige Männer fanden sogar ein schlüpfriges Vergnügen daran, ihre Frauen derart zu Huren gemacht zu sehen. Die ganze Nacht hindurch sangen, tranken und tanzten sie, begleitet vom Klang der barbarischen Trommeln und Flöten. Baalbek war nie ein Ort mit einer reinen christlichen Seele.
Es war ein Ort ritueller Blutopfer wie auch heiliger Liebe. Kann es das eine ohne das andere geben? Die alte Religion kannte keine Sanftheit, Blut wurde regelmäßig bei Riten auf diesen Steinen vergossen. «Anath, die Schwester Baals, watete bis zu den Knien, bis zum Hals in menschlichem Blut», heißt es in den antiken Texten. «Menschenhände lagen ihr zu Füßen, umschwärmten sie wie Heuschrecken. Sie band sichMenschenköpfe um den Hals und Hände um die Hüfte. Sie wusch sich die Hände in Strömen von Menschenblut, das ihr bis zu den Knien stand …»
In Baalbek sind Götter sterblich, so scheint es. Sie werden geboren und verehrt, sie blühen auf, und ihnen zu Ehren werden mächtige Tempel errichtet. Später, wenn Männer und Frauen aufhören, an sie zu glauben, verwelken sie und sterben. Neue Generationen von sterblichen Göttern treten an ihre Stelle. Irgendwann wird auch Christus für immer verschwunden sein.
Weder Athenais noch Aëtius sprachen ihre heimlichen Gedanken in Baalbek aus. Doch sie verweilten dort lange.
Endlich erreichten sie Jerusalem, die Stadt Davids. Auch diesen Ort schätzte Athenais sehr und hielt sich dort länger auf, als es sich ziemen mochte. Schließlich erwartete ihr Mann sie in Konstantinopel zurück; es war höchste Zeit, dass sie wieder das Bett mit ihm teilte. Denn ihre wichtigste Pflicht bestand nun darin, ihm Söhne zu schenken. Für eine Kaiserin gibt es keinen anderen Daseinsgrund.
***
Der letzte Abend in Jerusalem war gekommen. Am nächsten Tag sollten sie den heiligen Berg hinabsteigen und an die Küste, nach Caesarea, reisen, um dann mit dem Schiff nach Hause zu fahren. Die Kaiserin erging sich auf der einsamen Terrasse des schlichten Palastes, in dem sie untergebracht waren. Sie lag zum Tal von Gehenna hin, zum Totenreich, dem Scheol, wo die Hebräer früher die Leichen in eine rauchende Spalte in der Erde geworfen und verbrannt hatten. Von der anderen Seite dieses Höllenschlunds wehte eine sanfte Brise vom Garten Gethsemane auf dem Ölberg herüber.
Da trat eine weitere Gestalt aus dem Schatten des Palastes auf die Terrasse, um vor dem Schlafengehen noch ein wenig Luft zu schnappen. Die beiden stießen fast zusammen. Sie traten einen Schritt zurück und starrten einander mit derselben großäugigen Verwunderung an wie bei ihrer ersten Begegnung vor drei langen Monaten. Ihre Augen waren groß, hell und unschuldig im Licht des Mondes dort im Osten. Dann, wie Schlafwandler, gingen sie im sanften, samtigen Licht aufeinander zu. Aus den Olivenhainen auf der anderen Seite des Tals kam der schrille Warnruf eines Vogels. Der Mond stand golden am Spätsommerhimmel, und die Luft war schwer von den letzten Ähren, deren Spreu auf den Feldern lag. Im Dunst brannten die Feuer mit den Ernteabfällen.
Sie sagten nichts. Und in wunderbarer Unbeholfenheit, wie zwei Heranwachsende –
Es lässt sich unmöglich sagen, wer wen küsste. Ihre Lippen trafen sich. Beide hatten sie gegen diese Begierde oder vielmehr: dieses dringende Bedürfnis, den anderen zu berühren, angekämpft. Beide waren
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