Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
im Kriege, habe ich dann unzählige Tote gesehen und kaum mehr dabei empfunden, als wäre ich in einem Schlachthause – aber diesen ersten habe ich nie vergessen, so wie man alles Erste nicht vergißt. Er war der Tod. Und es ist derselbe Tod, der mich manchmal aus den erloschenen Augen der Irren anblickt, ein lebendiger Tod, unbegreiflicher fast noch und rätselhafer als der andere, stille. Nur bei Isabelle ist das anders.
Ich sehe sie den Weg vom Pavillon für Frauen herankommen. Ein gelbes Kleid schwingt wie eine Glocke aus Shantungseide um ihre Beine, und in der Hand hält sie einen flachen, breiten Strohhut.
Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Ihr Gesicht ist schmal, und man sieht darin eigentlich nur die Augen und den Mund. Die Augen sind grau und grün und sehr durchsichtig, und der Mund ist rot wie der einer Lungenkranken oder als hätte sie ihn stark geschminkt. Die Augen können aber auch plötzlich flach, schieferfarben und klein werden und der Mund schmal und verbittert wie der einer alten Jungfer, die nie geheiratet worden ist. Wenn sie so ist, ist sie Jennie, eine mißtrauische, unangenehme Person, der man nichts recht machen kann – wenn sie anders ist, ist sie Isabelle. Beides sind Illusionen, denn in Wirklichkeit heißt sie Geneviève Terhoven und leidet an einer Krankheit, die den häßlichen und etwas gespenstischen Namen Schizophrenie führt – Teilung des Bewußtseins, Spaltung der Persönlichkeit, und das ist auch der Grund, warum sie sich für Isabelle oder Jennie hält – jemand andern, als sie wirklich ist. Sie ist eine der jüngsten Kranken der Anstalt. Ihre Mutter soll im Elsaß leben und ziemlich reich sein, sich aber wenig um sie kümmern – ich habe sie jedenfalls hier noch nicht gesehen, seit ich Geneviève kenne, und das ist schon sechs Wochen her.
Sie ist heute Isabelle, das sehe ich sofort. Sie lebt dann in einer Traumwelt, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, und ist leicht und schwerelos, und ich würde mich nicht wundern, wenn die Zitronenfalter, die überall herumspielen, sich ihr auf die Schultern setzten.
«Da bist du!» sagt sie strahlend. «Wo warst du all die Zeit?»
Wenn sie Isabelle ist, sagt sie du zu mir. Das ist keine besondere Auszeichnung; sie sagt dann du zu aller Welt.
«Wo warst du?» fragt sie noch einmal.
Ich mache eine Bewegung in die Richtung des Tores.
«Irgendwo – da draußen –»
Sie sieht mich einen Augenblick forschend an. «Draußen? Warum? Suchst du da etwas?»
«Ich glaube schon – wenn ich nur wüßte, was!»
Sie lacht. «Gib es auf, Rolf. Man findet nie etwas.»
Ich zucke zusammen unter dem Namen Rolf. Leider nennt sie mich öfer so, denn ebenso wie sich selbst hält sie auch mich für jemand andern, und auch nicht immer für denselben. Sie wechselt zwischen Rolf und Rudolf, und einmal kam auch ein gewisser Raoul auf. Rolf ist ein langweiliger Patron, den ich nicht ausstehen kann; Raoul scheint eine Art Verführer zu sein – am liebsten aber ist es mir, wenn sie mich Rudolf nennt, dann ist sie schwärmerisch und verliebt. Meinen wirklichen Namen, Ludwig Bodmer, ignoriert sie. Ich habe ihn ihr of gesagt; aber sie nimmt ihn einfach nicht zur Kenntnis.
In den ersten Wochen war das alles ziemlich verwirrend für mich; aber jetzt bin ich daran gewöhnt. Damals hatte ich auch noch die landläufige Auffassung von Geisteskrankheiten und stellte mir darunter dauernde Tobsuchtsanfälle, Mordversuche und lallende Idioten vor – um so überraschender hob sich Geneviève davon ab. Ich konnte anfangs kaum glauben, daß sie überhaupt krank war, so spielerisch erschien mir die Verwechslung von Namen und Identität, und auch jetzt passiert mir das manchmal noch; dann aber begriff ich, daß hinter dieser fragilen Konstruktion trotzdem lautlos das Chaos wehte. Es war noch nicht da, aber es war nahe, und das gab Isabelle, zusammen damit, daß sie erst zwanzig Jahre alt und durch ihre Krankheit of von einer fast tragischen Schönheit war, eine seltsame Anziehungskraf.
«Komm, Rolf», sagt sie und nimmt meinen Arm.
Ich versuche noch einmal, dem verhaßten Namen zu entfliehen. «Ich bin nicht Rolf», erkläre ich, «ich bin Rudolf.»
«Du bist nicht Rudolf.»
«Doch, ich bin Rudolf. Rudolf, das Einhorn.»
Sie hat mich einmal so genannt. Doch ich habe kein Glück. Sie lächelt, so wie man über ein störrisches Kind lächelt. «Du bist nicht Rudolf, und du bist nicht
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