Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
zieht ihr Kleid dicht um die Beine. «Und wenn sie träumen?» fragt sie plötzlich. «Was träumen sie?»
      «Wer?»
      «Die Spiegel.»
      «Ich glaube, sie träumen immer», sage ich. «Das ist es, was sie den ganzen Tag tun. Sie träumen uns. Sie träumen uns nach der anderen Seite herum. Was bei uns rechts ist, ist bei ihnen links, und was links ist, ist rechts.»
      Isabelle dreht sich mir zu. «Dann sind sie die andere Seite von uns?»
      Ich überlege. Wer weiß wirklich, was ein Spiegel ist?
      «Da siehst du es», sagt sie. «Und vorhin behauptetest du, es wäre nichts in ihnen. Dabei haben sie unsere andere Seite in sich.»
      «Nur so lange, wie wir vor ihnen stehen. Wenn wir weggehen,
    nicht mehr.»
    «Woher weißt du das?»
      «Man sieht es. Wenn man fortgeht und zurücksieht, ist unser Bild schon nicht mehr da.»
      «Und wenn sie es nur verstecken?»
      «Wie können sie es verstecken? Sie spiegeln doch alles! Deshalb sind sie ja Spiegel. Ein Spiegel kann nichts verstecken.»
      Eine Falte steht zwischen Isabelles Brauen. «Wo bleibt es dann?»
      «Was?»
      «Das Bild! Die andere Seite! Springt es in uns zurück?»
      «Das weiß ich nicht.»
      «Es kann doch nicht verlorengehen!»
      «Es geht nicht verloren.»
      «Wo bleibt es denn?» fragt sie drängender. «Im Spiegel?»
      «Nein. Im Spiegel ist es nicht mehr.»
      «Es wird schon noch da sein! Woher weißt du das so genau? Du siehst es doch nicht.»
      «Andere Leute sehen auch, daß es nicht mehr da ist. Sie sehen nur ihr eigenes Bild, wenn sie vor dem Spiegel stehen. Nichts anders.»
      «Sie verdecken es. Aber wo bleibt meins? Es muß da sein!»
      «Es ist ja da», sage ich und bereue, daß ich das ganze Gespräch angefangen habe. «Wenn du wieder vor den Spiegel trittst, ist es auch wieder da.»
      Isabelle ist plötzlich sehr aufgeregt. Sie kniet auf der Bank und beugt sich vor. Schwarz und schmal steht ihre Silhouette vor den Narzissen, deren Gelb im schwülen Abend aussieht, als wären sie aus Schwefel. «Es ist also darin! Und vorhin sagtest du, es sei nicht da.»
      Sie umklammert meine Hand und zittert. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, um sie zu beruhigen. Mit physikalischen Gesetzen kann ich ihr nicht kommen; sie würde sie verachtungsvoll ablehnen. Und im Augenblick bin ich der Gesetze auch nicht so ganz sicher. Spiegel scheinen auf einmal wirklich ein Geheimnis zu haben.
      «Wo ist es, Rudolf?» flüstert sie und drängt sich gegen mich. «Sag mir, wo es ist! Ist überall von mir ein Stück zurückgeblieben? In all den Spiegeln, die ich gesehen habe? Ich habe viele gesehen, unzählige! Bin ich überall darin verstreut? Hat jeder etwas von mir genommen? Einen dünnen Abdruck, eine dünne Scheibe von mir? Bin ich von Spiegeln zerschnitten worden wie ein Stück Holz von Hobeln? Was ist dann noch von mir da?»
      Ich halte ihre Schultern. «Alles ist von dir da», sage ich. «Im Gegenteil, Spiegel geben noch etwas hinzu. Sie machen es sichtbar und geben es dir zurück – ein Stück Raum, ein beglänztes Stück Selbst.»
      «Selbst?» Sie umklammert immer noch meine Hand. «Und wenn es anders ist? Wenn es überall begraben liegt in tausend und tausend Spiegeln? Wie kann man es zurückholen? Ach, man kann es nie zurückholen! Es ist verloren! Verloren! Es ist abgehobelt wie eine Statue, die kein Gesicht mehr hat. Wo ist mein Gesicht? Wo ist mein erstes Gesicht? Das vor allen Spiegeln? Das, bevor sie begannen, mich zu stehlen?»
      «Niemand hat dich gestohlen», sage ich ratlos. «Spiegel stehlen nicht. Sie spiegeln nur.»
      Isabelle atmet hefig. Ihr Gesicht ist bleich. In ihren durchsichtigen Augen schimmert der rote Widerschein des Mondes. «Wo ist es geblieben?» flüstert sie. «Wo ist alles geblieben? Wo sind wir überhaupt, Rudolf? Alles läuf und saust und versinkt! Halte mich fest! Laß mich nicht los! Siehst du sie nicht?» Sie starrt zum dunstigen Horizont. «Da fliegen sie! Alle die toten Spiegelbilder! Sie kommen und wollen Blut! Hörst du sie nicht? Die grauen Flügel! Sie flattern wie Fledermäuse! Laß sie nicht heran!»
      Sie drückt ihren Kopf gegen meine Schulter und ihren bebenden Körper gegen meinen. Ich halte sie und blicke in die Dämmerung, die tiefer und tiefer wird. Die Luf ist still, aber das Dunkel rückt jetzt aus den Bäumen der Allee langsam vor wie eine lautlose Kompanie von Schatten. Es scheint uns umgehen zu wollen und kommt

Weitere Kostenlose Bücher