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Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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aus dem Hinterhalt heran, um uns den Weg abzuschneiden. «Komm», sage ich. «Laß uns gehen! Drüben hinter der Allee ist es heller. Da ist noch viel Licht.»
      Sie widerstrebt und schüttelt den Kopf. Ich fühle ihr Haar an meinem Gesicht, es ist weich und riecht nach Heu, und auch ihr Gesicht ist weich, ich fühle die schmalen Knochen, das Kinn und den Bogen der Stirn, und plötzlich bin ich wieder tief verwundert darüber, daß hinter diesem engen Halbkreis eine Welt mit völlig anderen Gesetzen lebt, und daß dieser Kopf, den ich mit meinen Händen mühelos umspanne, alles anders sieht als ich, jeden Baum, jeden Stern, jede Beziehung und auch sich selbst. Ein anderes Universum ist in ihm beschlossen, und einen Augenblick lang schwimmt alles durcheinander, und ich weiß nicht mehr, was Wirklichkeit ist – das, was ich sehe, oder das, was sie sieht, oder das, was ohne uns da ist und was wir nie erkennen können, da es mit ihm so ist, wie mit den Spiegeln, die da sind, wenn wir da sind, und die doch immer nichts anderes spiegeln als unser eigenes Bild. Nie, nie wissen wir, was sie sind, wenn sie allein sind, und was hinter ihnen ist; sie sind nichts, und doch können sie spiegeln und müssen etwas sein; aber niemals geben sie ihr Geheimnis preis.
      «Komm», sage ich. «Komm, Isabelle. Keiner weiß, was er ist und wo und wohin er geht – aber wir sind zusammen, das ist alles, was wir wissen können.»
      Ich ziehe sie mit mir. Vielleicht gibt es wirklich nichts anderes, wenn alles zerfällt, denke ich, als das bißchen Beieinandersein, und auch das ist noch ein sanfer Betrug, denn da, wo der andere einen wirklich braucht, kann man ihm nicht folgen und ihm nicht beistehen, das habe ich of genug gesehen, wenn ich im Kriege in die toten Gesichter meiner Kameraden geblickt habe. Jeder hat seinen eigenen Tod und muß ihn allein sterben, und niemand kann ihm dabei helfen.
      «Du läßt mich nicht allein?» flüstert sie.
      «Ich lasse dich nicht allein.»
      «Schwöre es», sagt sie und bleibt stehen.
      «Ich schwöre es», erwidere ich unbedenklich.
      «Gut, Rudolf.»
      Sie seufzt, als wäre jetzt vieles leichter.
      «Aber vergiß es nicht. Du vergißt so of.»
      «Ich werde es nicht vergessen.»
      «Küsse mich.»
      Ich ziehe sie an mich. Ich fühle ein sehr leichtes Grauen und weiß nicht, was ich tun soll, und küsse sie mit trockenen, geschlossenen Lippen.
      Sie hebt ihre Hände um meinen Kopf und hält ihn. Plötzlich spüre ich einen scharfen Biß und stoße sie zurück. Meine Unterlippe blutet. Sie hat hineingebissen. Ich starre sie an. Sie lächelt. Ihr Gesicht ist verändert. Es ist böse und schlau. «Blut!» sagt sie leise und triumphierend. «Du wolltest mich wieder betrügen, ich kenne dich! Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!»
      «Ich kann nicht mehr weg», sage ich ernüchtert. «Meinetwegen! Darum brauchst du mich aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet! Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?»
      Isabelle lacht. «Nichts», erwidert sie. «Warum mußt du immer
    etwas sagen? Sei doch nicht so feige!»
      Ich spüre das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen Zweck – die Wunde muß sich von selbst schließen. Geneviève steht vor mir. Sie ist plötzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und häßlich, und sie lächelt schlau und boshaf. Dann beginnen die Glocken für die Maiandacht. Eine Pflegerin kommt den Weg entlang. Ihr weißer Mantel schimmert ungewiß im Zwielicht.

    Meine Wunde ist während der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewänder in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor fünfzehn Minuten war er noch eine mystische Figur –, weihrauchumdampf stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie über die Köpfe der frommen Schwestern und die Schädel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten weißen Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein einfacher Agent Gottes, gemütlich, kräfig, mit den roten Backen, der roten Nase und den geplatzten Äderchen darin, die den Liebhaber des Weines kennzeichnen. Er weiß es nicht – aber er war mein Beichtvater für manche Jahre vor dem Kriege, als wir,

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