Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
Menschheit zu erlösen.»
      «Herr Vikar Bodendiek», sagte ich, plötzlich sehr wütend. «Weshalb hat der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit eigentlich die Menschen so verschieden erschaffen? Warum den einen elend und krank und den andern gesund und gemein?»
      «Wer hier erniedrigt wird, wird im Jenseits erhöht. Gott ist die ausgleichende Gerechtigkeit.»
      «Ich bin nicht so sicher», erwidere ich. «Ich kannte eine Frau, die zehn Jahre Krebs hatte, die sechs fürchterliche Operationen hinter sich brachte, die nie ohne Schmerzen war und die schließlich an Gott verzweifelte, als zwei ihrer Kinder starben. Sie ging nicht mehr zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion, und nach den Regeln der Kirche starb sie im Stande der Todsünde. Nach denselben Regeln brennt sie jetzt für alle Ewigkeit in der Hölle, die der Gott der Liebe geschaffen hat. Das ist gerecht, nicht wahr?»
      Bodendiek sieht eine Zeitlang in den Wein. «Ist es Ihre Mutter?» fragt er dann.
      Ich starre ihn an. «Was hat das damit zu tun?»
      «Es ist Ihre Mutter, nicht wahr?»
      Ich schlucke. «Und wenn es meine Mutter wäre –»
      Er schweigt. «Es genügt eine einzige Sekunde, um sich mit Gott zu versöhnen», sagt er dann behutsam. «Eine Sekunde vor dem Tode. Ein einziger Gedanke. Er braucht nicht einmal ausgesprochen zu werden.»
      «Das habe ich vor ein paar Tagen einer verzweifelten Frau auch
    gesagt. Aber wenn der Gedanke nicht da war?»
      Bodendiek sieht mich an. «Die Kirche hat Regeln. Sie hat Regeln, um zu verhüten und zu erziehen. Gott hat keine. Gott ist die Liebe. Wer von uns kann wissen, wie er richtet?»
      «Richtet er?»
      «Wir nennen es so. Es ist Liebe.»
      «Liebe», sage ich bitter. «Eine Liebe, die voll Sadismus ist. Eine Liebe, die quält und elend macht und die entsetzliche Ungerechtigkeit der Welt mit dem Versprechen eines imaginären Himmels zu korrigieren glaubt.»
      Bodendiek lächelt. «Glauben Sie nicht, daß vor Ihnen schon andere Leute darüber nachgedacht haben?»
      «Ja, unzählige. Und klügere als ich.»
      «Das glaube ich auch», erwidert Bodendiek gemütlich.
      «Das ändert nichts daran, daß ich es nicht auch tue.»
      «Bestimmt nicht.» Bodendiek schenkt sein Glas voll. «Tun Sie es nur gründlich. Zweifel ist die Kehrseite des Glaubens.»
      Ich sehe ihn an. Er sitzt da, ein Turm der Festigkeit, und nichts kann ihn erschüttern. Hinter seinem kräfigen Kopf steht die Nacht, die unruhige Nacht Isabelles, die weht und gegen das Fenster stößt und endlos und voller Fragen ohne Antwort ist. Bodendiek aber hat auf alles eine Antwort.

    Die Tür öffnet sich. Auf einer großen Platte erscheint das Essen, in runden Schüsseln, die aufeinandergestellt sind. Eine paßt in die andere, es ist die Art, wie in Hospitälern serviert wird. Die Küchenschwester breitet ein Tuch über den Tisch, legt Messer, Löffel und Gabeln darauf und verschwindet.
      Bodendiek lüfet die obere Schüssel. «Was haben wir denn heute nacht? Bouillon», sagt er zärtlich. «Bouillon mit Markklößchen. Erstklassig! Und Rotkohl mit Sauerbraten. Eine
    Offenbarung!»
      Er schöpf die Teller voll und beginnt zu essen. Ich ärgere mich darüber, mit ihm disputiert zu haben, und fühle, daß er klar überlegen ist, obschon es nichts mit dem Problem zu tun hat. Er ist überlegen, weil er nichts sucht. Er weiß. Aber was weiß er schon? Beweisen kann er nichts. Trotzdem kann er mit mir spielen, wie er will.
      Der Arzt kommt herein. Es ist nicht der Direktor; es ist der behandelnde Arzt. «Essen Sie mit uns?» fragt Bodendiek. «Dann müssen Sie sich dazuhalten. Wir lassen sonst nichts übrig.»
      Der Arzt schüttelt den Kopf. «Ich habe keine Zeit. Es gibt ein Gewitter. Da sind die Kranken immer besonders unruhig.»
      «Es sieht nicht nach einem Gewitter aus.»
      «Noch nicht. Aber es wird kommen. Die Kranken fühlen das voraus. Wir, mußten schon ein paar ins Dauerbad legen. Es wird eine schwierige Nacht werden.»
      Bodendiek verteilt den Sauerbraten zwischen uns. Er nimmt sich die größere Portion. «Gut, Doktor», sagt er.
      «Aber trinken Sie wenigstens ein Glas Wein mit uns. Es ist ein Fünfzehner. Eine Gabe Gottes! Sogar für unseren jungen Heiden hier.»
      Er zwinkert mir zu, und ich möchte ihm gern meine Sauerbratensauce in seinen leicht speckigen Kragen schütten. Der Doktor setzt sich zu uns und nimmt das Glas an. Die bleiche Schwester steckt den

Weitere Kostenlose Bücher