Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für sie, kein Murren aus Tiefen, kein Wetterleuchten in eisigen Ätherräumen – sie sind Männer des Glaubens und der Wissenschaf, sie haben Senkblei und Lot und Waage und Maß, jeder ein anderes, aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher, sie haben Namen, die sie wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen gut, sie haben einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der schwarze Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit ungefährlich geworden. Nur das Namenlose tötet, oder das, was seinen Namen gesprengt hat.
      «Es blitzt», sage ich.
      Der Doktor sieht auf. «Tatsächlich!»
      Er erörtert gerade das Wesen der Schizophrenie, der Krankheit Isabelles. Sein dunkles Gesicht ist von Eifer leicht gerötet. Er erklärt, wie Kranke dieser Art blitzartig, in Sekunden, von einer Persönlichkeit in die andere springen, und daß man sie in alten Zeiten als Seher und Heilige bezeichnet habe und in anderen als vom Teufel Besessene, vor denen das Volk abergläubischen Respekt hatte. Er philosophiert über die Gründe, und ich wundere mich plötzlich, woher er das alles weiß und warum er es als Krankheit bezeichnet. Könnte man es nicht ebensogut als einen besonderen Reichtum ansehen? Hat nicht jeder normale Mensch auch ein Dutzend Persönlichkeiten in sich? Und ist der Unterschied nicht nur der, daß der Gesunde sie unterdrückt und der Kranke sie freiläßt? Wer ist da krank?
      Ich trete an den Tisch und trinke mein Glas aus. Bodendiek betrachtet mich wohlwollend; Wernicke so, wie man einen völlig uninteressanten Fall ansieht. Ich fühle zum erstenmal den Wein; ich fühle, daß er gut ist, in sich geschlossen, gereif und nicht lose. Er hat kein Chaos mehr in sich, denke ich. Er hat es verwandelt. Verwandelt in Harmonie. Aber verwandelt, nicht ersetzt. Er ist ihm nicht ausgewichen. Ich bin plötzlich, eine Sekunde lang, ohne Grund unsagbar glücklich. Man kann das also, denke ich. Man kann es verwandeln! Es ist nicht nur eins oder das andere. Es kann auch eins durch das andere sein.
      Ein neuer blasser Schein wirf sich gegen das Fenster und erlischt. Der Doktor erhebt sich. «Es geht los. Ich muß zu den Geschlossenen hinüber.»
      Die Geschlossenen sind die Kranken, die nie herauskommen. Sie bleiben eingeschlossen, bis sie sterben, in Zimmern mit festgeschraubten Möbeln, mit vergitterten Fenstern und mit Türen, die man nur von außen mit Schlüsseln öffnen kann. Sie sind in Käfigen wie gefährliche Raubtiere, und niemand spricht gerne von ihnen.
      Wernicke sieht mich an. «Was ist mit Ihrer Lippe los?»
      «Nichts. Ich habe mich im Traum gebissen.»
      Bodendiek lacht. Die Tür öffnet sich, und die kleine Schwester bringt eine neue Flasche Wein herein, mit drei Gläsern dazu. Wernicke verläßt mit der Schwester das Zimmer. Bodendiek greif nach der Flasche und schenkt sich ein. Ich verstehe jetzt, warum er Wernicke angeboten hat, mit uns zu trinken; die Oberin hat daraufin die neue Flasche geschickt. Eine allein wäre nicht genug für drei Männer. Dieser Schlauberger, denke ich. Er hat das Wunder der Speisung bei der Bergpredigt wiederholt. Aus einem Glas für Wernicke hat er eine ganze Flasche für sich gemacht. «Sie trinken wohl nicht mehr, wie?» fragt er.
      «Doch!» erwidere ich und setze mich. «Ich bin auf den Geschmack gekommen. Sie haben ihn mir beigebracht. Danke herzlich.»
      Bodendiek zieht mit einem sauersüßen Lächeln die Flasche wieder aus dem Eis. Er betrachtet das Etikett einen Augenblick, ehe er mir eingießt – ein viertel Glas. Sein eigenes schenkt er fast bis zum Rande voll. Ich nehme ihm ruhig die Flasche aus der Hand und gieße mein Glas nach, bis es ebenso gefüllt ist wie seines. «Herr Vikar», sage ich. «In manchen Dingen sind wir gar nicht so verschieden.»
      Bodendiek lacht plötzlich. Sein Gesicht entfaltet sich wie eine Pfingstrose. «Zum Wohle», sagt er salbungsvoll.

    Das Gewitter murrt und zieht hin und her. Wie lautlose Säbelhiebe fallen die Blitze. Ich sitze am Fenster meines Zimmers, die Fetzen aller Briefe Ernas vor mir in einem ausgehöhlten Elefantenfuß, den mir der Weltreisende Hans Ledermann, der Sohn des Schneidermeisters Ledermann, vor einem Jahr als Papierkorb geschenkt hat.
      Ich bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschafen aufgezählt; ich

Weitere Kostenlose Bücher