Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
Pracht. Als Reklamefachmann muß ich zugeben, daß der Katholizismus Luther in diesen Dingen weit überlegen ist. Er wendet sich an die Phantasie und nicht an den Intellekt. Seine Priester sind angezogen wie die Zauberdoktoren bei den Eingeborenenstämmen; und ein katholischer Gottesdienst mit seinen Farben, seiner Stimmung, seinem Weihrauch, seinen dekorativen Gebräuchen ist als Aufmachung unschlagbar. Der Protestant fühlt das; er ist dünn und trägt eine Brille. Der Katholik ist rotwangig, voll und hat schönes, weißes Haar.
Jeder von beiden hat für seine Toten getan, was er konnte. Leider sind unter den Gefallenen auch zwei Juden, die Söhne des Viehhändlers Levi. Für sie ist kein geistlicher Trost vor handen. Gegen die Zuziehung des Rabbis haben beide gegnerischen Gottesmänner ihre Stimmen vereint – zusammen mit dem Vorsitzenden des Kriegervereins, Major a. D. Wolkenstein, einem Antisemiten, der fest davon überzeugt ist, daß der Krieg nur durch die Juden verloren wurde. Fragt man ihn warum, dann bezeichnet er einen sofort als Volksverräter. Er war sogar dagegen, daß die Namen der beiden Levis auf die Gedenktafel eingraviert würden. Er behauptet, sie seien bestimmt weit hinter der Front gefallen. Zum Schluß wurde er jedoch überstimmt. Der Gemeindevorsteher hatte seinen Einfluß geltend gemacht. Sein Sohn war 98 im Reservelazarett Werdenbrück an Grippe gestorben, ohne je im Felde gewesen zu sein. Er wollte ihn auch als Helden auf der Gedenktafel haben und erklärte deshalb, Tod sei Tod und Soldat Soldat – und so bekamen die Levis die untersten zwei Plätze auf der Rückseite des Denkmals, da, wo die Hunde es wahrscheinlich anpissen werden.
Wolkenstein ist in voller kaiserlicher Uniform. Das ist zwar verboten, aber wer tut schon etwas dagegen? Die seltsame Verwandlung, die bald nach dem Waffenstillstand begann, ist immer weitergegangen. Der Krieg, den fast alle Soldaten 98 haßten, ist für die, die ihn heil überstanden haben, langsam zum großen Abenteuer ihres Lebens geworden. Sie sind in den Alltag zurückgekehrt, der, als sie noch in den Gräben lagen und auf den Krieg fluchten, ihnen als Paradies erschien. Jetzt ist es wieder Alltag geworden, mit Sorgen und Verdruß, und dafür ist allmählich der Krieg am Horizont emporgestiegen, entfernt, überlebt und dadurch ohne ihren Willen und fast ohne ihr Zutun verwandelt, verschönert und verfälscht. Der Massenmord ist zum Abenteuer geworden, dem man entkommen ist. Die Verzweiflung ist vergessen, das Elend ist verklärt, und der Tod, der einen nicht erreicht hat, ist das geworden, was er fast immer im Leben ist: etwas Abstraktes, aber nicht mehr Wirklichkeit. Wirklichkeit ist er nur, wenn er nahe einschlägt oder nach einem greif. Der Kriegerverein, der unter dem Kommando von Wolkenstein vor dem Denkmal aufmarschiert ist, war 98 pazifistisch; jetzt ist er bereits scharf national. Wolkenstein hat die Erinnerungen an den Krieg und das Kameradschafsgefühl, das fast jeder hatte, geschickt in Stolz auf den Krieg umgewandelt. Wer nicht nationalistisch ist, beschmutzt das Andenken der gefallenen Helden – dieser armen, mißbrauchten, gefallenen Helden, die alle gern noch gelebt hätten. Wie sie Wolkenstein von seinem Podium herunterfegen würden, auf dem er gerade seine Rede hält, wenn sie es nur noch könnten! Aber sie sind wehrlos und sind das Eigentum von Tausenden von Wolkensteins geworden, die sie für die egoistischen Zwecke benützen, die sie unter Worten wie Vaterlandsliebe und Nationalgefühl verbergen. Vaterlandsliebe! Wolkenstein versteht darunter, wieder Uniform zu tragen, Oberst zu werden und weiter Leute in den Tod zu schicken.
Er donnert mächtig von der Tribüne und ist bereits beim inneren Schweinehund angekommen, beim Dolchstoß in den Rücken, bei der unbesiegten deutschen Armee und beim Gelöbnis für unsere toten Helden, sie zu ehren, sie zu rächen und die deutsche Armee wieder aufzubauen.
Heinrich Kroll hört andächtig zu; er glaubt jedes Wort. Kurt Bach, der als Schöpfer des Löwen mit der Lanze in der Flanke auch eingeladen worden ist, starrt verträumt auf das verhüllte Denkmal. Georg sieht aus, als gäbe er sein Leben für eine Zigarre; und ich, im geborgten kleinen Gesellschafsanzug, wollte, ich wäre zu Hause geblieben und schliefe mit Gerda in ihrem weinumrankten Zimmer, während das Orchestrion aus dem Altstädter Hof die Siamesische Wachtparade klimpert.
Wolkenstein
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