Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
leisten, wenn eine dicke Briefasche sie zudeckt. Die aber habe ich nicht.
Zufrieden trete ich auf die Straße. Lärmend dringt draußen das Dasein sofort auf mich ein. In einem brandroten Kabriolett saust Willy an mir vorüber, ohne mich zu sehen. Ich presse das Brevier für Weltleute fest unter den Arm. Rein ins Leben! denke ich. Hoch die irdische Liebe! Fort mit den Träumen! Fort mit den Gespenstern! Das gilt für Erna sowohl als auch für Isabelle. Für meine Seele habe ich ja immer noch den Plato.
Der Altstädter Hof ist eine Kneipe, in der wandernde Artisten, Zigeuner und Fuhrleute verkehren. Im ersten Stock gibt es ein Dutzend Zimmer zu vermieten, und im Hinterhaus befindet sich ein großer Saal mit einem Klavier und einer Anzahl Turngeräten, in dem die Artisten ihre Nummern üben können. Das Hauptgeschäf aber ist die Kneipe. Sie gilt nicht nur als Treffpunkt der Wanderer vom Variete; auch die Unterwelt der Stadt verkehrt hier.
Ich öffne die Tür zum hinteren Saal. Am Klavier steht Renée de la Tour und übt ein Duett. Im Hintergrund dressiert ein Mann zwei weiße Spitze und einen Pudel. Zwei kräfige Frauen liegen auf einer Matte und rauchen, und am Trapez, die Füße zwischen die Hände unter die Stange gesteckt, den Rücken durchgedrückt, schwingt Gerda auf mich los wie eine fliegende Galionsfigur.
Die beiden kräfigen Frauen sind im Badeanzug. Sie räkeln sich, und ihre Muskeln spielen. Es sind ohne Zweifel die Ringkämpferinnen vom Programm des Altstädter Hofes. Renée brüllt mir mit erstklassiger Kommandostimme guten Abend zu und kommt zu mir herüber. Der Dresseur pfeif. Die Hunde schlagen Saltos. Gerda saust gleichmäßig auf dem Trapez hin und zurück und erinnert mich an den Augenblick, als sie mich in der Roten Mühle zwischen ihren Beinen hindurch ansah. Sie trägt ein schwarzes Trikot und um das Haar ein festgeknotetes rotes Tuch.
«Sie übt», erklärt Renée. «Sie will zum Zirkus zurück.»
«Zum Zirkus?» Ich sehe Gerda mit neuem Interesse an.
«War sie schon einmal beim Zirkus?»
«Natürlich. Da ist sie ja groß geworden. Aber der Zirkus ist pleite gegangen. Konnte das Fleisch für die Löwen nicht mehr bezahlen.»
«War sie mit den Löwen?»
Renée lacht wie ein Feldwebel und sieht mich spöttisch an. «Das wäre aufregend, was? Nein, sie war Akrobatin.»
Gerda saust wieder über uns hin. Mit starren Augen sieht sie mich an, als wolle sie mich hypnotisieren. Sie meint mich aber gar nicht; sie starrt nur vor Anstrengung.
«Ist Willy eigentlich reich?» fragt Renée de la Tour.
«Ich glaube schon. Was man heute so reich nennt. Er hat Geschäfe und einen Haufen Aktien, die jeden Tag steigen. Warum?»
«Ich habe es gern, wenn Männer reich sind.» Renée lacht mit ihrem Sopran. «Jede Dame hat das gern», brüllt sie dann wie auf dem Kasernenhof.
«Das habe ich gemerkt», erkläre ich bitter. «Ein reicher Schieber ist besser als ein ehrenhafer ärmerer Angestellter.»
Renée schüttelt sich vor Lachen. «Reich und ehrlich geht nicht zusammen, Baby! Heute nicht! Wahrscheinlich früher auch nie.»
«Höchstens, wenn man erbt oder das große Los gewinnt.»
«Auch dann nicht. Geld verdirbt den Charakter, wissen Sie das noch nicht?»
«Das weiß ich. Aber weshalb legen Sie soviel Wert darauf?»
«Weil ich mir aus Charakter nichts mache», zirpte Renée mit einer zimperlichen Altjungfernstimme. «Ich liebe Komfort und Sicherheit.»
Gerda saust mit einem perfekten Salto auf uns zu. Sie kommt einen halben Meter vor mir zum Stehen, wippt ein paarmal auf den Zehen hin und her und lacht. «Renée lügt», sagt sie.
«Hast du gehört, was sie erzählt hat?»
«Jede Frau lügt», sagt Renée mit Engelsstimme. «Und wenn sie nicht lügt, ist sie nichts wert.»
«Amen», erwidert der Hundedresseur.
Gerda streicht die Haare zurück. «Ich bin hier fertig. Warte, bis ich mich umgezogen habe.»
Sie geht zu einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrif «Garderobe» hängt. Renée sieht ihr nach. «Sie ist hübsch», erklärt sie sachlich. «Schauen Sie, wie sie sich hält. Sie geht richtig, das ist die Hauptsache bei einer Frau. Hintern rein, nicht raus. Akrobaten lernen das.»
«Das habe ich schon einmal gehört», sage ich. «Von einem Frauen- und Granitkenner. Wie geht man richtig?»
«Wenn man das Gefühl hat, mit dem Hintern ein Fünfmarkstück festzuhalten –
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