Der Schwarze Papst
Punkt irgendwo am Ende der Gasse.
Sandro wandte sich um, sah jedoch nichts Außergewöhnliches, nur zwei Alte, die sich unterhielten.
»Was ist?«, fragte er.
»Eben habe ich - das war Miguel Rodrigues. Er hat dort vorn die Gasse gekreuzt. Er kam von links und ging nach rechts.«
Im ersten Augenblick war Sandro empört, dass Miguel Rodrigues die Ausgangssperre missachtete, bis ihm gleich darauf einfiel, dass es diese Ausgangssperre seit heute Morgen nicht mehr gab. Einen Tag hatte der Ehrwürdige zugesagt und verkündet, und dieser Tag war der gestrige gewesen. Der junge
Rodrigues hatte demnach völlig legal das Collegium Germanicum verlassen.
Legal, ja. Doch mit welchen Absichten?
»Geh ihm nach, Angelo«, entschied Sandro kurz entschlossen. »Pass aber auf, dass er dich nicht bemerkt.«
»Aber …« Angelo führte den Satz nicht zu Ende, und sein Seufzer ließ erkennen, dass er zwar enttäuscht war, andererseits jedoch die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Maßnahme erkannte.
»Ich werde Euch Bericht erstatten«, flüsterte er Sandro verschwörerisch zu, bevor er wie eine Katze auf Mäusejagd um die Ecke huschte.
Der Bursche gefiel Sandro immer mehr. Aber was, um alles in der Welt, hatte er ihm beichten wollen?
Der Zugang zu Giovannas Wohnung erfolgte über einen engen Hausflur, in den man wiederum über einen nicht gerade sauberen Hof gelangte. Das war typisch für die römischen Armenviertel. Höfe über Höfe, einer wie der andere. Überall die verfallenden Mauern mit Gänseblümchen und wildem Thymian bewachsen, die morschen Balkone, noch morschere Treppen, auf denen der Schimmel wie Aussatz vorankroch, die Aschereste offener Feuer, die angebundenen Tiere, seien es Ziegen, Enten, Gänse, der säuerliche Geruch von Urin, von Haus zu Haus gespannte Wäscheleinen, Augenpaare hinter offenen Fenstern, das bedrückende Gefühl, nie allein und immer einsam zu sein …
Die Tür zu Giovannas Wohnung war nicht verriegelt, obwohl Riegel und Schloss vorhanden waren. Innen war es sauber, und es roch angenehm nach salziger Suppe und nach Fisch. Die Küche bestand aus einem Winkel mit einem kleinen Ofen, auf dem ein Kessel stand, worin gekochte Krebse in einem klaren Sud schwammen - das typische Essen armer Römer, die die
Krebse im Tiber selbst fingen oder für wenige Denare am Ufer kaufen konnten. Neben dem Ofen stand ein Tisch mit zwei Stühlen, und auf einem Stuhl war ein Teller mit einem angebissenen Stück Kuchen abgestellt worden.
Das Zimmer war mit vier Schritten durchmessen. Eine Tür am anderen Ende war einen winzigen Spalt geöffnet, und Sandro schob sie langsam auf. Zunächst kam ein leeres Bett zum Vorschein, dann eine schiefe Kommode, ein Fenster, durch das ein breiter Sonnenstrahl einfiel, und als Sandros Blick dem Strahl weiter folgte, gelangte er zu einem weiteren Bett. Dort lag ein Mädchen auf der Decke und schlief. Sie trug ein hübsches, gelbes Kleid, hatte ihre Hände in das Kissen gekrallt und erwachte, als die Tür beim Öffnen einen hellen Seufzer von sich gab.
Sandros Verdacht bestätigte sich. »Du bist Clelia«, sagte er und gewann damit sofort das Vertrauen des Mädchens, das er auf etwa zehn Jahre schätzte. In diesem Alter konnte es vorkommen, dass man misstrauisch bis panisch auf fremde Männer reagierte, die, wenn man aufwachte, neben dem Bett standen - auch wenn sie Geistliche waren. Dass er ihren Namen kannte, wirkte beruhigend auf sie.
»Hat meine Mutter Euch geschickt?« Ihre Stimme war sehr hoch und klar und außerdem noch ein wenig verschlafen.
»Ja«, sagte er, und irgendwie stimmte es sogar. Giovannas letztes Wort war der Name ihrer Tochter gewesen, ausgesto ßen im Moment des Todes. Sandro empfand das Wort wie eine Aufforderung, ein Flehen … »Ja«, wiederholte er. Doch damit, das wusste er, war er mit der Wahrheit für den Moment schon am Ende angelangt. Er fühlte sich nicht in der Lage, Clelia mit den traurigen Tatsachen zu konfrontieren. Wie sagte man einem Mädchen, das auf die Mutter wartet, dass die Mutter nie mehr kommen wird, dass sie tot ist, verbrannt ist, ermordet und verstümmelt wurde? Jedes Stück Wahrheit, das Sandro
der jungen Clelia offenbart hätte, würde zum nächsten Stück Wahrheit führen. Ihr zu sagen, deine Mutter ist tot, zog unweigerlich die Frage nach dem Wie nach sich, nach dem Wer und Warum, und jede dieser Fragen war auf ihre Weise heikel. Es gab Wahrheiten, die mehr Schaden als Nutzen brachten.
Clelia verließ das Bett. »Hat
Weitere Kostenlose Bücher