Der schwarze Prinz
heraus in das Hier und Jetzt der Realität Midgards geschleudert zu werden, war, wie wenn ein mit Überschallgeschwindigkeit fliegender Düsenjet mitten in der Luft zum Stehen kommt ... ohne Abbremsen ... ohne allmähliches Anpassen des Tempos. Noch während Svenya das Gefühl hatte, sich wieder zu ihrer ursprünglichen - wenn jetzt auch mit sehr viel mehr Macht erfüllten - Form zu materialisieren, fühlte es sich so an, als würde sie jeden Moment in Tausende von Fetzen gerissen. So, als wolle ihr abrupt und auf der Stelle wieder körperlich gewordener Leib die wilde Reise, die hinter ihr lag, auch auf dieser Ebene der Realität fortsetzen. Sie stolperte nach vorn, aber Hel packte sie am Handgelenk und half ihr, auf den Füßen zu bleiben.
Svenya sah, dass Yrr weniger Glück gehabt hatte und sich gerade wieder auf die Beine rappelte. Sie erinnerte sich, dass Hagens Tochter, anders als er selbst, zu jung war, um jemals durch eines der großen Tore gegangen zu sein, also genau wie sie keine Erfahrung damit hatte.
Von oben aus der Festung waren das Toben von Kampflärm und das fürchterliche Brüllen des befreiten Drachen zu hören.
»Also, was weißt du über mein Schicksal?«, wiederholte Svenya die letzte Frage, die sie im Vortex des Portals gestellt hatte. »Und warum warst du hier in Midgard?«
Statt zu antworten, zeigte Hel auf das Albbrü-Tor, das nür wenige Meter entfernt war von dem neuen. »Ist das das Tor nach Alfheim?«
»Ja«, sagte Svenya. »Aber beantworte mir erst meine Fragen.«
»Komm mit mir in die Schattenwelten, und du wirst die Antworten auf deine Fragen finden.«
Wieder röhrte Oegis nur wenige Etagen über ihnen mordlüstern und aggressiv auf.
»Ich kann nicht«, sagte Svenya. »Mein Platz ist hier. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen.«
Hel schüttelte den Kopf. »Unser Pakt war, dass ich niemanden mehr verletze oder töte. Daran bin ich gebunden.« Sie lächelte, zuckte mit den Schultern und ging auf das Albbrü-Tor zu.
»Dann verrate mir wenigstens, warum du mich verschont hast!«
Die Göttin in Gestalt Lau’Leys zwinkerte ihr mit ihrem schwarzen Auge zu. »Das weißt du doch.« Dann sprang sie durch das Tor und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Svenya hätte schreien mögen vor Wut, war sich jedoch darüber im Klaren, dass es jetzt Wichtigeres gab. Die Bedrohung durch Hel war abgewendet - aber die durch Laurin und Oegis tobte direkt über ihr. Sie sah, wie Yrr aus den Kriegern, die jetzt gruppenweise durch das Aarhainer Tor kamen, routiniert einzelne Kampfeinheiten von je vierundzwanzig Mann zusammenstellte. Die erste davon lief los, um die Torwächter zu unterstützen, die Hagen anscheinend bei seinem ersten Besuch bereits instruiert hatte. Kaum nämlich war Hel durch das Albbrü-Tor verschwunden, senkten sie aus der Decke einen massiven Schild aus Titan, Silber und Eisen herab, der zusätzlich über und über mit magischen Runen versehen war.
Drei weitere Einheiten instruierte Yrr, unbemerkt und ohne den Kampf zu suchen in die obersten Bereiche der Festung vorzudringen und alle Zu- und Ausgänge von und zur Oberfläche zurückzugewinnen und zu sichern.
Svenya schaltete sich ein: »Ich kann sie transportieren.«
Yrr nickte erleichtert, und Svenya war in den nächsten drei Minuten damit beschäftigt, die zweiundsiebzig Kriegerinnen und Krieger einzeln auf ihre Posten in der obersten Etage Elbenthals zu bringen. Sie trafen hier oben auf keinen der Soldaten Laurins - was bewies, wie sicher er sich seines Sieges war.
Als Svenya mit ihrer Aufgabe fertig war, war die Halle um das Tor herum bereits wieder zum Bersten gefüllt mit frisch aus Aarhain eingetroffenen Kämpfern. Auch Hagen, Loga und Stjarn kamen gerade durch das Portal.
Hagen rief Svenya über die Köpfe der anderen hinweg zu: »Geh überprüfen, ob die Kinder und Nichtkrieger sich noch in Sicherheit bringen konnten. Wir rücken inzwischen in Richtung Thronsaal vor.«
Svenya kannte das Belagerungsprotokoll. Bei einem Angriff der Dunkelelben hatten sämtliche Nichtkrieger die Aufgabe, die Kinder der Festung zu evakuieren oder, wenn die Fluchtwege versperrt waren, sie in den Kern der Burg zu bringen.
Loga sprang über die Krieger hinweg an Svenyas Seite, sie schwang sich auf seinen Rücken und transportierte sie beide nach oben in das Dachgeschoss der Dresdner Kunstakademie.
56
Dresden
Das Dachgeschoss der Dresdner Kunstakademie war Evakuations-punkt Nummer eins - und Svenya zog sich der Magen zusammen, als
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