Der schwarze Prinz
Tor jedoch war wie das Eintauchen in einen Strudel. Svenya hatte das Gefühl, dass sie in all ihre Einzelteile zerlegt wurde - bis hin zu Molekülen und Atomen. Sie verlor jeden Bezug zu ihrem Körper und fühlte sich inmitten des gewaltigen Sogs wie eine Wolke, die nur noch ganz schwach von unsichtbaren Kräften zusammengehalten und durch einen wirbelnden Tunnel gejagt wurde. Ihr wurde übel - obwohl sie in diesem Zustand keinen Magen besaß - und auch in ihrem nicht mehr vorhandenen Kopf drehte sich alles. Ihr Zeitgefühl war komplett außer Kraft gesetzt: Was - wie sie wusste - nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte, kam ihr vor wie lange, zähe Minuten. Minuten, in denen es sich auf der einen Seite so anfühlte, als sei alles an ihr absolut taub - und auf der anderen, als stünde sie in Flammen. Sie sah Bilder von sich selbst... obdachlos auf der Straße.... und im Heim ... aber auch in der goldenen Halle, von der sie geträumt hatte ... das Gesicht Laurins, das plötzlich zu dem von Hagen wurde. So als sei dieser Eindruck ein ganz besonders wichtiger - den sie verzweifelt zu greifen und zu verstehen versuchte. Doch gerade als sie meinte, dass ihr das gleich gelingen würde, durchzuckte sie ein gewaltiger Blitz, und ihr Geist schrie schmerzerfüllt auf.
Etwas in dem Tor attackierte sie!
Das Etwas war so körperlos wie sie - doch es fühlte sich so an, als stünde Svenya inmitten eines wirbelnden Wüstensturms, in dem Myriaden von winzigen Sandkörnern auf sie zu und in sie hinein schossen; jedes einzelne mit dem Schmerz einer stechenden Nadel. Nur dass es keine Sandkörner waren, sondern Teilchen, die noch kleiner waren als Atome ... und die sie, auch wenn sie schrecklich wehtaten, nicht wirklich verletzten. Es war vielmehr, als würden sie sie auffüllen ... ausfüllen. So, wie es die Magie der Umgebung tat, wenn Svenya sie mit einem Zauberspruch sammelte - nur, dass diese Kraft jetzt auf sie zuströmte wie winzige Metallteile zu einem riesigen Magneten.
Sosehr sie sich bemühte, gelang es Svenya nicht, den eigenen Schrei zu unterbrechen. Die Qual wurde größer und größer, und sie geriet in Panik, dass die wilde Kraft die Wolke, die sie nur noch war, gleich gänzlich zum Bersten bringen und sie damit vernichten würde.
»Hab keine Angst«, flüsterte da plötzlich eine Stimme. Es war Hel.
»Du?«, schrie Svenya. »Du tust mir das an?«
»Nein«, antwortete Hel - ungewohnt sanft. »Ich bin durch unseren Pakt gebunden; erinnerst du dich?«
Es fiel Svenya schwer, sich zu konzentrieren, aber schließlich erinnerte sie sich. »Ja. Aber wenn du das nicht bist, was geschieht hier?«
»Du tankst fehlende Magie auf. Macht.«
»Was?«
»Das ist kosmische Balance«, sagte Hel. »Die Schwerter geben mehr Magie, als zur Aufrechterhaltung des Tores nötig ist - und dir scheint Magie zu fehlen, also saugst du sie auf. Wie ein Schwamm. Das tut weh, ich weiß - aber es wird keinen Schaden anrichten, und es ist gleich vorüber. Je weniger du dich dagegen wehrst, umso schneller.«
Außer dem Bewusstsein, dass Hel ihr nicht wirklich feindlich gesonnen war, und dem Pakt, den sie geschlossen hatten, hatte Svenya keinen Grund, der Totengöttin zu vertrauen. Aber es gab auch keine Alternative - selbst wenn es eine Attacke von ihr wäre, wusste Svenya nicht, wie sie sie hätte abwenden können. Zudem verstärkte sich das anfängliche Gefühl tatsächlich: Die Energie tat zwar weh, aber sie verletzte sie nicht - und mit jedem Moment, der verging, fühlte Svenya sich stärker. Sie dachte an die Nacht auf dem Fichtelberg, als Laurin sie an die Irminsul gekettet hatte und sein Ritual mit den Reliquien durchführen wollte. Auch da war Magie in sie gedrungen und hatte sie mächtiger gemacht. Aber das war nur ein Bruchteil der Macht gewesen, die jetzt in sie strömte.
»Wenn ich euch gleich verlasse, solltest du mit mir kommen«, sagte Hel.
»Wohin?«
»In die Schattenwelten. Dein Platz ist dort - nicht hier auf Midgard ... inmitten dieser Sterblichen und Halbsterblichen.« Ihre Stimme trug einen verächtlichen Ton.
»Ich bin die Hüterin Midgards«, antwortete Svenya. »Mein Platz ist hier.«
Auch ohne es zu sehen, fühlte sie, wie Hel den Kopf schüttelte. »Dein Schicksal ist ein sehr viel größeres.«
»Was weißt du über mein Schicksal?«
Das war der Moment, in dem die Reise durch das Portal endete.
TEIL 6
KRIEG
55
Elbenthal - Albbrü-Tor
Aus dem Alles und Nichts des magischen Strudels aus dem Portal
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