Der schwarze Prinz
und wenige Sekunden später hörten auch die Blitze auf. Svenya lauschte in die Stille, doch da gab es nichts zu hören. Rein gar nichts. Es war sogar so still, dass Svenya versucht war, ihr Schwert zu ziehen und ihre Waffen aneinander zuschlagen, um sicherzustellen, dass sie nicht das Gehör verloren hatte.
Nur wenige Dutzend Meter trennten sie jetzt noch von dem Tempel ... und mit einem Mal begann die schwarze Wolke sich ganz allmählich aufzulösen. So als würde sie von der kaum vorhandenen Strömung langsam davon getrieben. Das Schwarz wurde zu Grau, dann schälten sich die Umrisse des Tempels vor Svenyas Augen aus den Schatten, und noch ehe sie ihn wirklich klar und deutlich sehen konnte, erkannte sie, dass er ebenso in Trümmern lag wie der Tempel von Odin und Thor.
Die Mauern waren eingestürzt, und überall ragten zersplitterte Balken in die Höhe wie die Masten alter, havarierter Segelschiffe. Aber anders als bei dem goldenen Tempel bröckelten hier auch weiter einzelne Steine herab, und der Boden war zu Schlammwolken aufgewühlt. Was immer den Tempel zerstört hatte, hatte das gerade eben erst getan.
Da entdeckte sie die erste Leiche!
Es war ein weiblicher Körper - nicht sehr viel größer als der Svenyas. Die Frau war nackt und ihre Haut am Oberkörper mit blauen Schuppen bedeckt. In ihrem Busen klaffte ein schwarz gerändertes Loch - wie von der Verbrennung durch einen Blitz. Der Unterkörper war der eines gewaltigen Kraken mit dicken, saugnapf-bewehrten Tentakeln. Ihr Mund stand im Tod halb offen, und Svenya konnte mehrere Reihen nadelspitzer Zähne erkennen. Anstelle von Haupthaar floss von ihrer Stirn über Kopf und Nacken zwischen den Schulterblättern hindurch bis hin zum Steiß eine Kette von Panzergliedern herab - wie die eines Hummers. An ihrer Seite lagen ein in der Mitte gebrochener Schild aus dickem Perlmutt und die Splitter eines bis zum Heft geborstenen Schwertes.
War das eine der Töchter Rans?
Svenya schwamm an ihr vorüber und entdeckte nur wenige Meter weiter eine zweite Leiche. Sie sah genauso aus wie die erste, nur dass der tödliche Blitz sie nicht in die Brust getroffen, sondern ihr den halben Schädel weggerissen hatte. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ließ Svenya darauf schließen, dass es sich bei ihnen tatsächlich um zwei der neun Ranen handeln musste, und als sie noch eine dritte und dann eine vierte Leiche fand, war sie sich dessen vollends sicher. Trotz der Untaten, für die diese Wesen verantwortlich waren und für die Svenya sie bis eben noch selbst zur Verantwortung zu ziehen entschieden hatte, ergriff eine tiefe Traurigkeit von der Hüterin Besitz, als sie sie so leblos in den Fluten liegen und schweben sah. Sie waren Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende alt - Töchter zweier Götter oder zumindest gottähnlicher Wesen - und jetzt existierten sie einfach nicht mehr, waren jeder Möglichkeit zur Reue oder Besserung beraubt und auch der Chance, ihre einzigartigen Kräfte vielleicht doch noch irgendwie zum Guten einzusetzen. Was hätten sie alles berichten und vielleicht gar lehren können!
Aber wer hat sie getötet? Ist Laurin vielleicht schon hier? War es ihm mithilfe seiner Wölfe doch irgendwie gelungen, ihren Abflug zu beobachten und aus der Richtung auf ihr Ziel zu schließen? Wenn er die Geschichte und die Legenden um Mimung, Wieland, Wittich und Vineta kannte - und davon war auszugehen -, war ihm das sicherlich möglich. Aber wie konnte er vor mir hier sein? Die einzige Antwort, die sie darauf hatte, war, dass er sich vielleicht direkt über der versunkenen Stadt hatte absetzen lassen, anstatt wie Svenya auf den Klippen zu landen und erst noch hierher zu schwimmen. Verliere ich den Wettlauf um das Schwert wegen dieser wenigen Minuten?
Sie näherte sich dem Zentrum des Tempels, und hier fand Svenya auch die übrigen fünf der Schwestern. Sie lagen vor einem Thron, so als hätten sie hier ihre letzte Wehr gebildet, um ihn und den, der darauf saß, zu schützen.
Die Rüstung war aus reinem Gold und so fein gearbeitet wie die Stücke, die Svenya aus Alberichs Schmiede kannte. Das Visier des Helmes stand weit offen, und von dahinter grinste ihr ein makellos weißer Totenschädel entgegen. Auf seinen Knien ruhte ein gewaltiges Schwert - das Svenya augenblicklich erkannte: Es war Mimung.
Also war sie doch nicht zu spät.
Aber wenn nicht um das Schwert, worum war dann hier gekämpft worden? War vielleicht Aegir zurückgekehrt, um seine Töchter dafür
Weitere Kostenlose Bücher