Der schwarze Prinz
dass der Tempel um sie herum erbebte, und Svenya, die die unglaubliche Kälte der Gegnerin bis in ihre Schultern hoch spürte, schlug ein zweites Mal zu, diesmal in Höhe ihres Nackens. Doch ehe die Klinge sie dort treffen konnte, war die Fremde um die Längsachse herumgewirbelt und bremste den Schlag, indem sie den Elbenstahl mit den bloßen Händen packte. Anders als bei Svenya schlug er keine sichtbaren Wunden - aber eine Welle der eisigen Kälte zuckte über ihre Hände und Arme in Svenya hinein und entlockte ihr einen wilden Schmerzensschrei. Gleichzeitig sah sie, wie die andere ganz kurz festere Form anzunehmen schien. Ihr Gesicht war hager und lang - auf der einen Seite weiß, auf der anderen tiefschwarz. In der schwarzen Seite funkelte ein weißes Auge - wie blind -, während in der weißen Seite ein schwarzes leuchtete. Ebenso zweigefärbt waren ihr langes, im Wasser wie von eigenem Leben erfülltes wehendes Haar und ihre Kleidung, die zur einen Hälfte aus Lumpen bestand und zur anderen aus feinster Seide. Svenya fühlte sich spontan an einen Harlekin erinnert, hatte jedoch keine Gelegenheit mehr, einen weiteren Gedanken zu fassen.
»Du?!«, fragte die Fremde in einem Ausbruch von Überraschung und ließ schnell einen weiteren Blitz durch das Schwert hindurch in Svenya hineinzucken. Svenya schrie noch einmal auf und fühlte, wie Mimung ihr entrissen wurde. Im nächsten Augenblick schon holte ihre Gegnerin damit aus und schlug zu. Svenya versuchte noch verzweifelt, sich zur Seite wegzudrehen, war aber durch den Frost in ihren Gliedern so gelähmt, dass sie sich kaum bewegte.
Im nächsten Moment raste ein überwältigender Schmerz in ihre Seite ... und alles wurde schwarz.
12
Svenya spürte, dass sie nicht tot war - zumindest nicht endgültig. Doch ob die Bilder, die sich aus dem Schwarz ihres Bewusstseins schälten, Ohnmachtsträume waren oder die Visionen einer Sterbenden, vermochte sie nicht zu sagen. Sie war an einem seltsamen Ort. Ähnlich wie bei dem Tempel, in dem sie den Hinterhalt für die fremde Angreiferin gelegt hatte, waren in der riesigen Halle, die um sie herum mehr und mehr Form und Gestalt annahm, die Wände und Säulen üppig mit Gold beschichtet. Die Kapitelle der Säulen waren aus makellos weiß schimmerndem Elfenbein und die Balken, die das weite Dach trugen, aus tiefschwarzem und blank poliertem Ebenholz. Svenya hörte vereinzelte Stimmen um sich herum. Sie klangen fröhlich - ausgelassen ... befreit. Und es wurden nach und nach mehr ... sehr viel mehr ... bis sie schließlich zu einem Chor anschwollen wie eine Meeresbrandung aus Gelächter und Gesang. Svenya sah sich um und beobachtete, wie aus dem Nichts heraus Dutzende langer Tafeln auftauchten. Reich gedeckte Tafeln, an denen Hunderte von Männern, Frauen und Kindern saßen und feierten. Menschen, Mannwölfe, Elben.
War das um sie herum Walhall, Odins Halle, zu der die Walküren die Seelen der auf dem Schlachtfeld Gefallenen trugen? War sie hier, weil auch sie in der Schlacht gefallen war? Sie, die Namenlose - wie Oegis sie genannt hatte -, im Kampf mit einer ebenso unbekannten Gegnerin? Was jedoch machten dann all die Kinder hier? Oder war dies ein ganz anderer Ort und das um sie herum die Seelen der Bürger Vinetas, endlich erlöst von ihrem ewigen Fluch? Aber waren es dafür nicht viel zu viele? Svenya schaute sich um, suchte nach Pinn, und als sie ihn von dem Punkt aus, an dem sie sich befand, nicht entdecken konnte, begann sie, an den Tafeln entlangzuschweben. Prompt hoben sich die Gesichter der Feiernden, und sie schauten sie an. Die meisten begrüßten sie mit dem Lächeln der Vertrautheit, manch andere jedoch prosteten ihr sogar ehrerbietig zu.
Schließlich verstummten die vielen Stimmen, und jedes einzelne Augenpaar in der gewaltigen goldenen Halle war auf sie gerichtet. Da fühlte Svenya plötzlich die Bedrohung. Dieses Gefühl zwischen den Schulterblättern kennt jeder - wie wenn man von hinten beobachtet wird. Svenya wirbelte herum ... und wo eben noch die Halle gewesen war, war es schlagartig wieder pechschwarz. Von Panik ergriffen drehte sie sich zurück nach vorne, aber auch hier waren die Tafeln und die Speisenden mit einem Mal verschwunden in der dunklen Leere, die jetzt auch nach oben wandernd die Säulen auf Fraß und schließlich das Dach.
Alles um Svenya herum verschwand - nur das Gefühl der Bedrohung nicht. Das wurde stärker - so als lauerte sie in dem Nichts hinter dem Dunkel ... Schritt für Schritt
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