Der schwarze Prinz
genau der Richtung, in der nach Svenyas instinktiver Orientierung Vineta liegen musste. War das ein Warnsignal der Ranen? Wusste man bereits von Svenyas Ankunft?
Nicht mehr ganz so schnell wie eben und sich immer wieder nach allen Seiten umspähend, setzte sie ihren Weg im Schutz der Unsichtbarkeit fort - darauf hoffend, dass ihr Tarnzauber, anders als bei den Wölfen Aarhains und dem Leviathan, auch auf die Ranen wirkte.
Nicht lange, da erschien vor ihr die Silhouette der versunkenen Stadt. Svenya hatte nicht mit einer so hohen und massiven Mauer gerechnet. Als Alberich ihr von dem Schicksal Vinetas erzählt hatte, hatte sie eine - wenn auch große - frühmittelalterliche Siedlung vor ihrem geistigen Auge; gegebenenfalls vielleicht noch mit römischen Einflüssen. Aber das hier erinnerte sie sehr viel mehr an Raegnirs Unterrichtsstunden über Troja, Sidon oder Tyros. Die Bollwerke, die die Stadt vor der Katastrophe zum Land hin abgesichert hatten, ragten steil vor ihr in die Höhe. Für Svenya stellten sie kein Hindernis dar, schon gar nicht hier unter Wasser, aber für Gegner aus uralter Zeit mussten sie unüberwindlich gewesen sein. Svenya verspürte einen Anflug von Melancholie, als sie sich vorstellte, was aus einer so gut befestigten und reichen Stadt wohl geworden wäre, hätte sie nicht den Zorn der Götter der See erregt.
Sie schwamm im Schatten eines der hohen Türme an dem seltsam gut intakt wirkenden Mauerwerk nach oben und hielt Ausschau nach möglichen Angreifern. Die Glocken läuteten noch immer - schneller sogar als zuvor. Oben angekommen hielt Svenya inne und spähte über die Zinnen hinweg auf den Wehrgang. Und plötzlich spürte sie: Sie war nicht mehr allein. Sie schaute sich um und wurde zweier Schatten gewahr, die ein gutes Stück weiter rechts auf der Brüstung standen. Sie schwamm an der Außenmauer entlang langsam näher, bis sie sie besser erkennen konnte: zwei Krieger in alten nordischen Rüstungen, wie Svenya sie von Wandgemälden aus ihrem Palast kannte. Im ersten Moment wusste Svenya nicht, was ihr seltsamer erschien - die uralten Rüstungen, die Tatsache, dass die Krieger nicht in ihre Richtung, sondern gespannt in das Innere der Stadt blickten ... oder dass sie halb durchsichtig waren.
Geister! , erkannte Svenya. Sie folgte den Blicken der in tiefen Höhlen liegenden Augen ins Zentrum der Stadt. Von dort kam das Läuten der Glocken ... und dort zuckten auch, wie sie jetzt sah, in einer schwarzen, tintenähnlichen Wolke, die tief über den Gebäuden hing, rote und blaue Blitze - wie in einem auf engsten Raum begrenzten Gewitter.
Svenya verbiss sich einen Fluch. Genau dort, wo dieses Gewitter tobte, befand sich gemäß ihres Plans der Tempel der Rän. Genau dort musste sie hin!
Nicht sicher, ob ihre Tarnung auch bei Geistern wirkte, schwamm Svenya einen weiten Bogen um die beiden Wachen herum und ließ sich auf der anderen Seite der Mauer nach unten sinken. Dabei konnte sie noch mehr von der Stadt sehen: mehrstöckige Häuser, die in ihrer Bauweise eher römischen und phönizischen Villen glichen als germanischen Hütten, fein gepflasterte Straßen. Sie alle waren vollkommen unbeschädigt ... ganz anders, als man es nach einer Naturkatastrophe wie der Flut, die Vineta einst in die Tiefe des Meeres gerissen hatte, erwartet hätte. Aber vielleicht war auch das nur ein Trugbild, wie die Geister auf der Mauer.
Hier unten waren noch mehr von ihnen. Männer, Frauen, Kinder. Prachtvoll gekleidet - aber ihre halb durchsichtigen Mienen waren so ausgemergelt wie die der Wachen, und auch sie starrten reglos in Richtung der Stadtmitte. Svenya nutzte das, um hinter ihnen entlangzuschwimmen, und fühlte sich dabei wie ein Gespenst unter Geistern.
Da trat ihr aus einem Hauseingang ein kleiner Junge in den Weg. Er mochte so zwischen vier und sechs Jahre alt sein, aber seine Augen wirkten älter ... wesentlich älter. Anders als die meisten war er nicht in Samt und Seide gehüllt, sondern trug grobe Hosen aus Leinen und als Hemd einen Jutesack, in den Löcher für Kopf und Arme geschnitten waren und den er über dem Bauch mit einem zerschlissenen Strick geschnürt hatte.
Er schaute Svenya direkt in die Augen - und sie erkannte, dass er sie sehen konnte. Svenya machte sich bereit zur Flucht und rechnete damit, dass er Alarm schlagen würde. Doch stattdessen legte er den Kopf neugierig auf eine Seite und fragte sie: »Bist du diejenige, die kommt, uns endlich zu holen?«
Die Sprache, die er
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