Der schwarze Prinz
stolpern. »Wieso lebst du noch?«
»Ich stelle hier die Fragen, Wargo«, sagte sie kalt. »Was willst du in Aarhain? Wenn du gekommen bist, die Hüterin zu befreien, bist du zu spät.«
»Was?! Ist sie tot?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du verstehst heute so wenig, wie du damals verstanden hast. Aber ich kann dich beruhigen: Sie ist nicht tot. Sie konnte ihren Jötunn-Wächter überwinden und fliehen.«
Sosehr ihn die Begegnung mit seiner einst geliebten und jahrzehntelang tot geglaubten Frau verwirrte, fiel ihm doch ein Stein vom Herzen. Wenigstens war Svenya in Sicherheit.
»Gut«, sagte er. »Dann steig jetzt ab und erklär mir, was genau geschehen ist damals und wieso du mich über siebzig Jahre lang in dem Glauben gelassen hast, dich für immer verloren zu haben.«
Statt ihm eine Antwort zu geben, zog Lykia eine Pistole aus dem Schulterholster, zielte auf Wargos Brust, spannte den Hahn ... und schoss.
29
Svenya saß auf dem Thron der riesigen goldenen Halle. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie hierhergekommen war, aber hier zu sitzen fühlte sich natürlich an ... gewohnt. Sie hielt ein mit süßem Met gefülltes Widderhorn in der Linken, und in der Rechten hatte sie einen golden schimmernden Apfel. Die vor ihr scheinbar ins Unendliche reichenden Tische und Tafeln waren belegt von Elben, Menschen, Mannwölfen und anderen Wesen, die feierten, sangen, lachten, musizierten und tanzten. Immer wieder prosteten sie ihr zu.
Svenya erinnerte sich an Schmerzen ... und an Müdigkeit. Die Erkenntnis, dass sie verschwunden waren, paarte sich mit einer Gewissheit, dass sie auch nie wiederkommen würden, und ein Lächeln der Erleichterung zauberte sich ganz von selbst auf ihr Gesicht.
Hier will ich sein! Hier bin ich ... Verdammt, WER bin ich? Warum sitze ich auf diesem Tliron? Was ist das für ein Ort, und wer sind all diese Männer, Frauen und Kinder?
Steh einfach auf und frage sie , sagte eine zweite innere Stimme.
Doch Svenya dachte an ihren Fluch - daran, dass es ihr verboten war, nach ihrer Herkunft oder ihrer Identität zu fragen.
Ich kann nicht , antwortete sie sich daher. Ich darf nicht. Was, wenn ich die Frage stelle und dann all das hier verschwindet?
Du willst ohnehin nicht hierbleiben , behauptete die zweite Stimme.
Will ich nicht?
Nein. Denk an deine Mission. Die Fünf Schwerter des Schicksals.
Aber es fühlt sich so an, als gehörte ich genau hierher. Als sei das der Ort, der mir bestimmt ist. Vielleicht gelingt es Elbenthal ja, das letzte der Schwerter auch ohne mich zu schützen.
Was ist mit Hagen? , fragte die zweite Stimme.
Ich kann doch hier auf ihn warten.
Du weißt doch noch nicht einmal, wo HIER überhaupt ist und ob es ihm bestimmt ist, ebenfalls hierherzukommen.
Er liebt mich. Er wird mich suchen und finden.
So, wie er dich in Laurins Kerker gesucht und gefunden hat?
Er hatte seine Gründe, nicht zu meiner Rettung zu eilen.
Ja, die hatte er. Und die wird er immer haben. Sein Pflichtgefühl und die Verantwortung für das Volk seines Vaters werden ihn immer davon abhalten, dich zu dem Wichtigsten in seinem Leben zu machen.
Ich kann warten.
Kannst du das? Er lebt ewig. Selbst wenn ihm dieser Ort für die Zeit nach seinem Tod bestimmt sein mag, was du nicht weißt, wird er ihn vielleicht nie erreichen, weil er niemals stirbt. Wie lange also bist du bereit, auf ihn zu warten?
Svenya hätte gerne mit »Für immer!« geantwortet, aber ihre Sehnsucht nach Hagen war zu groß, als dass sie sich selbst etwas vorlügen konnte.
Siehst du? , sagte die zweite Stimme. Also kannst du deine Gäste auch fragen, wer du bist und woher du kommst. Wenn dich dadurch der Fluch ereilt und du von hier fort und zurück in die Welt gerissen wirst, siehst du Hagen wieder.
Und was, wenn ich zwar von hier fort, aber nicht in meine Welt zurückgerissen werde, sondern irgendwo anders hin? In eine Art Hölle vielleicht? Oder wenn der Fluch bewirkt, dass ich gänzlich verschwinde? Dass ich aufhöre, überhaupt zu existieren? Aber selbst wenn er mich zurückbringt nach Midgard... dort liege ich gerade im Sterben ... oder bin bereits gestorben ... wohin kehre ich zurück: In meine Leiche? Wieder in den Kerker? Vielleicht auf einen Scheiterhaufen, den man für meinen toten Leib errichtet hat?
Das Schweigen der zweiten Stimme verriet ihr, dass es darauf keine Antwort gab, und Svenya beschloss, erst einmal abzuwarten und sich umzuschauen. Vielleicht fand sie ja auch Antworten, ohne nach ihnen fragen zu
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