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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Karren herum und beobachtete sie, als müsste er sie bewachen, und bald nach Tagesanbruch wandte er sich ab und verschwand. Ich rief ihm etwas nach, aber er fuhr weder zusammen, noch blickte er sich um, noch schenkte er dem die geringste Beachtung.
    Wir verließen Lancaster innerhalb der folgenden ein, zwei Stunden und machten uns auf den Weg nach Carlisle.Am nächsten Morgen hielt ich bei Tagesanbruch wieder nach dem fremden jungen Mann Ausschau. Ich sah ihn nicht. Aber am Morgen danach schaute ich wieder heraus, und da war er erneut. Ich rief ihm wieder etwas hinterher, aber wie beim letzten Mal zeigte er nicht das geringste Anzeichen, dass ich ihn irgendwie gestört hätte. Das brachte mich auf einen Gedanken. Ich beobachtete ihn auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten, die ich hier nicht näher erläutern muss, bis ich herausfand, dass dieser fremde junge Mann taubstumm war.
    Diese Entdeckung bestürzte mich, denn ich wusste, dass ein Teil der Einrichtung, die sie besucht hatte, jungen Männern (unter anderem recht wohlhabenden) zugeteilt gewesen war, und ich dachte bei mir: Wenn sie ihn vorzieht, wo bleibe dann ich? Und wo ist dann alles, wofür ich gearbeitet und geplant habe?
    In der Hoffnung – hier muss ich meine Selbstsüchtigkeit eingestehen –, dass sie ihn nicht vorziehen würde, machte ich mich daran, das herauszufinden. Endlich wurde ich zufällig Zeuge einer Begegnung zwischen den beiden im Freien, die ich, heimlich an einen Tannenbaum gelehnt, mit ansehen konnte, ohne dass sie es wussten. Es war für alle drei Parteien ein rührendes Treffen. Ich lauschte mit den Augen, die inzwischen den Gesprächen der Taubstummen so rasch und gut folgen konnten wie meine Ohren den Konversationen der Sprechenden. Er sollte nach China reisen und dort als Buchhalter in einem Handelshaus arbeiten wie sein Vater vor ihm. Er war in der Lage, für den Unterhalt einer Frau zu sorgen, und er bat sie, ihn zu heiraten und mit ihm zu gehen. Sie blieb beharrlich bei einem Nein. Er fragte, ob sie ihn denn nicht liebe. Ja, sie liebe ihn von ganzem Herzen; aber sie könne niemals ihren geliebten, guten, edlen, großzügigen und was weiß ich nicht allesVater (damit meinte sie mich, den Billigen Jakob in der Weste mit Ärmeln) enttäuschen und würde hier bei ihm bleiben, der Himmel möge ihn segnen, wenn es ihr auch das Herz brechen würde. Dann weinte sie bitterlich, und das entschied die Sache für mich.
    Während ich mir noch unschlüssig darüber war, ob sie diesem jungen Mann den Vorzug gab, hatte ich eine solche unvernünftige Wut auf Pickleson verspürt, dass er von Glück sagen konnte, dass er sein Erbe schon bekommen hatte. Denn ich überlegte oft: Wenn dieser blöde Riese nicht wäre, dann müsste ich mir jetzt nicht den Kopf über diesen jungen Mann zerbrechen und mich quälen. Aber sobald ich wusste, dass sie ihn liebte, sobald ich gesehen hatte, dass sie um ihn weinte, da war es etwas anderes. Da schloss ich in Gedanken sofort Frieden mit Pickleson und nahm mich zusammen, um zu tun, was für alle das Richtige war.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte sie den jungen Mann bereits verlassen (denn es dauerte doch ein paar Minuten, bis ich mich richtig zusammengenommen hatte), und der lehnte nun an einem anderen Tannenbaum – von denen ein kleiner Hain hier stand – und hatte das Gesicht auf den Arm gelegt. Ich berührte ihn leicht am Rücken. Er blickte auf, und als er mich sah, sagte er in unserer Taubstummensprache: »Seien Sie mir nicht böse.«
    »Ich bin dir nicht böse, mein lieber Junge. Ich bin dein Freund. Komm mit.«
    Ich ließ ihn unten an der Treppe zum Bibliothekswagen zurück und ging allein hinein. Sie trocknete sich die Augen.
    »Du hast geweint, meine Liebe.«
    »Ja, Vater.«
    »Warum?«
    »Kopfschmerzen.«
    »Nicht Herzschmerzen?«
    »Ich habe Kopfschmerzen gesagt, Vater.«
    »Da muss Doktor Marigold eine Arznei verordnen gegen diesen Kopfschmerz.«
    Sie nahm mein Buch mit den Rezepturen und hielt es mir mit einem gezwungenen Lächeln hin, aber da sie bemerkte, dass ich mich nicht rührte und ernst dreinblickte, legte sie es behutsam wieder hin und schaute mich mit aufmerksamen Augen an.
    »Da findest du die Arznei nicht, Sophy.«
    »Wo ist sie dann?«
    »Hier ist sie.«
    Ich brachte ihren jungen Mann herein und legte ihre Hand in die seine, und meine einzigen Worte an die beiden waren: »Doktor Marigolds letzte Rezeptur. Lebenslänglich einzunehmen.«
    Zur Hochzeit warf ich mich zum ersten und

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