Der schwarze Schleier
inzwischen pensioniert bin und ein zufriedenes Leben führe, habe ich nun die Mittel, die ich immer haben wollte, um alles, dessen ich ansichtig geworden bin, mit Muße zu überdenken. Meine Erfahrungen verfügen, so betrachtet, über noch einen bemerkenswerteren Aspekt als zu der Zeit, als die Dinge sich zugetragen haben. Ich bin gewissermaßen von einem Schauspiel nach Hause zurückgekehrt und kann mich ohne das gleißende Licht, die allgemeine Verwirrung und Geschäftigkeit des Theaters an die Szenen des Dramas erinnern, vor dem der Vorhang gefallen ist.
Lassen Sie mich Ihnen eine Erinnerung an einen dieser Romane des wirklichen Lebens vorlegen.
Es gibt nichts Wahrhaftigeres als die Physiognomie eines Menschen, in Einheit mit seinem Gebaren betrachtet. In diesem Buch zu lesen, zu dem jedes menschliche Geschöpf auf Befehl der Ewigen Weisheit seine Seite beitragen muss, auf der sein individueller Charakter beschrieben steht, ist vielleicht eine schwierige Kunst und wird nur seltenstudiert. Sie mag eine natürliche Begabung voraussetzen und muss (wie alles) einige Geduld und einige Bemühung verlangen. Dass man ihr diese normalerweise nicht zukommen lässt, dass viele Leute einige wenige banale Gesichtsausdrücke als das ganze Spektrum menschlicher Eigentümlichkeiten akzeptieren und die wahrhaftigsten Verfeinerungen weder suchen noch kennen, dass Sie zum Beispiel viel Zeit und Mühe darauf verwenden, Noten, Griechisch, Lateinisch, Französisch, Italienisch, Hebräisch, was Ihnen auch immer einfällt, lesen zu lernen, und nicht die Fähigkeit erwerben, das Gesicht der Lehrer oder Lehrerinnen zu lesen, die Ihnen über die Schulter schauen und Ihnen das beibringen – das halte ich für fünfhundert Mal mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich. Vielleicht liegt dem ein wenig Selbstgenügsamkeit zu Grunde; Gesichtsausdrücke verlangen keine genaueren Studien von Ihnen, denken Sie; es fällt Ihnen von Natur aus zu, dass Sie genug darüber wissen, und Sie lassen sich schon nicht täuschen.
Ich gestehe meinerseits ein, dass ich mich durchaus habe täuschen lassen, immer und immer wieder. Ich wurde von Bekannten getäuscht, und ich wurde (natürlich) von Freunden getäuscht; weit öfter von Freunden als von jeder anderen Personengruppe. Wie kam es, dass ich so hinters Licht geführt wurde? Hatte ich ihren Gesichtsausdruck völlig falsch gelesen?
Nein. Glauben Sie mir, mein erster Eindruck von diesen Menschen, der sich nur auf ihr Gesicht und ihr Gebaren stützte, war unweigerlich richtig. Mein Fehler war, dass ich sie näher an mich herankommen ließ und ihnen erlaubte, mir diesen ersten Eindruck auszureden.
II.
Die Trennwand, die in der City mein Büro von unserem allgemeinen äußeren Kontor trennte, bestand aus einer dicken Glasscheibe. Ich konnte durch sie hindurch alles sehen, was sich im äußeren Kontor abspielte, ohne ein Wort zu hören. Ich hatte sie anstelle einer Wand einbauen lassen, die dort jahrelang gestanden hatte – seit man das Haus gebaut hatte. Es tut nichts zur Sache, ob ich diese Veränderung vornehmen ließ, weil ich mir den ersten Eindruck von Fremden, die in Geschäften zu uns kamen, allein aufgrund ihres Gesichts machen wollte, ohne mich von ihren Worten beeinflussen zu lassen, oder ob ich es aus einem anderen Grund tat. Hier möge die Anmerkung genügen, dass ich meine Glastrennwand jedenfalls zu diesem Zwecke benutzte und dass das Kontor einer Lebensversicherung zu allen Zeiten mit den Betrugsversuchen der ausgefuchstesten und übelsten Angehörigen der menschlichen Rasse zu kämpfen hat.
Es war diese Glastrennwand, durch die ich zum ersten Mal den Herrn sah, dessen Geschichte ich nun erzählen werde.
Er war eingetreten, ohne dass ich es wahrgenommen hatte, hatte Hut und Regenschirm auf den breiten Schaltertisch gelegt und beugte sich nun darüber, um von einem der Schreiber einige Papiere entgegenzunehmen. Er war etwa vierzig Jahre alt, dunkel, außerordentlich gut in Schwarz gekleidet – denn er trug Trauer –, und die Hand, die er höflich ausstreckte, war mit einem besonders gut sitzenden schwarzen Glacéhandschuh bedeckt. Sein Haar, das sorgfältig gebürstet und eingeölt war, teilte ein Mittelscheitel; und er zeigte diesen Scheitel dem Schreiber (meiner Meinung nach), als wollte er ihm wortlos zu verstehengeben: ›Sie müssen mich, wenn es recht ist, so nehmen, wie ich mich Ihnen zeige. Immer geradeaus, folgen Sie dem Kiesweg, betreten Sie nicht den Rasen, ich erlaube keine
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