Der schwarze Schleier
entsprechen. Die Leute sind so wankelmütig, so selbstsüchtig, so rücksichtslos. Stellen Sie das in Ihrer Branche nicht auch jeden Tag fest, Mr. Sampson?«
Ich wollte gerade eine profunde Antwort geben, aber er wandte mir seinen glatten weißen Scheitel mit dem ›Hier geradeaus, wenn’s recht ist!‹ zu, und ich erwiderte nur: »Ja.«
»Ich höre, Mr. Sampson«, fuhr er dann fort, weil unser Freund eine neue Köchin hatte und das Abendessen nicht so pünktlich wie gewöhnlich serviert wurde, »dass Ihr Berufsstand kürzlich einen großen Verlust erlitten hat.«
»An Geld?«, fragte ich.
Er lachte über meine bereitwillige Verknüpfung von Verlust und Geld und erwiderte: »Nein, an Talent und Tatkraft.«
Ich vermochte seiner Anspielung nicht wirklich zu folgen und überlegte einen Augenblick. »Hat er tatsächlich einen derartigen Verlust erlitten?«, fragte ich. »Ich war mir dessen nicht bewusst.«
»Verstehen Sie mich recht, Mr. Sampson. Ich meinte nicht etwa, dass Sie in den Ruhestand gegangen sind. So schlimm ist es wieder nicht. Aber Mr. Meltham …«
»O sicher!«, sagte ich. »Ja! Mr. Meltham, der junge Versicherungsmathematiker der ›Inestimable‹.«
»Genau«, erwiderte er mit tröstender Stimme.
»Er ist wirklich ein großer Verlust. Er war der scharfsinnigste, originellste und tatkräftigste Mann, den ich je im Zusammenhang mit Lebensversicherungen kennengelernt habe.«
Ich verwendete starke Worte, denn ich hegte große Wertschätzung und Bewunderung für Meltham, und der Herr hatte mir auf unbestimmte Weise das Gefühl vermittelt,dass er ihn verhöhnen wollte. Er erinnerte mich wieder an meine Vorsicht, als er mir erneut diesen adretten Pfad auf seinem Kopf zuwandte, mit seinem innerlichen »Weg vom Rasen, wenn’s recht ist – immer schön auf dem Kiesweg bleiben«.
»Sie kannten ihn, Mr. Slinkton?«
»Nur dem Namen nach. Ihn als Bekannten oder Freund gekannt zu haben ist eine Ehre, um die ich mich bemüht hätte, wenn er die Gesellschaft nun nicht meiden würde, selbst wenn ich auch vielleicht niemals das Glück gehabt hätte, dies zu erreichen, da ich doch ein Mann von weit geringerem Rang bin. Er war gerade einmal dreißig, nehme ich an?«
»Etwa dreißig.«
»Ah«, seufzte er auf die gleiche tröstende Art wie zuvor. »Was für Geschöpfe wir sind! Seinen Beruf aufzugeben, Mr. Sampson, und in diesem Lebensalter seinen Geschäften nicht mehr nachgehen zu können! Gibt es eigentlich einen Grund, dem man diese traurige Tatsache zuschreibt?«
(Hm!, dachte ich, während ich ihn ansah. Aber ich gehe diesen Pfad nicht entlang, und ich betrete den Rasen.)
»Welchen Grund haben Sie denn dafür gehört, Mr. Slinkton?«, fragte ich ihn unverhohlen.
»Höchstwahrscheinlich einen falschen. Sie wissen doch, wie es mit Gerüchten ist, Mr. Sampson. Ich wiederhole nie etwas, das mir zu Ohren kommt; das ist die einzige Art und Weise, wie man Gerüchten die Spitze brechen kann. Aber wenn
Sie
mich fragen, welchen Grund ich dafür gehört habe, dass Mr. Meltham die Gesellschaft der Menschen meidet, dann ist das etwas anderes. Dann befriedige ich nicht die Sucht nach eitlem Klatsch und Tratsch. Mir wurde gesagt, Mr. Sampson, dass Mr. Meltham all seine Anwaltschaftenund alle seine Aussichten aufgab, weil man ihm das Herz gebrochen hatte. Eine enttäuschte Liebe, habe ich mir sagen lassen – wenn das auch im Falle eines so vornehmen und gutaussehenden Mannes kaum wahrscheinlich ist.«
»Gutes Aussehen und Vornehmheit sind keine Rüstung gegen den Tod«, sagte ich.
»Oh, sie ist gestorben? Bitte entschuldigen Sie. Das hatte ich nicht gehört. Das macht die Angelegenheit natürlich sehr, sehr traurig. Der arme Mr. Meltham! Sie ist gestorben? Ah, du liebe Güte! Beklagenswert, beklagenswert!«
Ich war noch immer der Meinung, dass sein Mitgefühl nicht ganz echt war, und ich vermutete dahinter immer noch einen unerklärlichen Hohn, bis er, als wir, wie alle anderen, die in Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten, von der Ankündigung des Abendessens getrennt wurden, zu mir sagte: »Mr. Sampson, Sie sind sicherlich überrascht, mich wegen eines Mannes, den ich nie kennengelernt habe, derart bewegt zu sehen. Ich bin nicht so unbeteiligt, wie Sie vielleicht meinen würden. Auch ich habe, und zwar ebenfalls kürzlich, unter einem Todesfall gelitten. Ich habe eine von zwei bezaubernden Nichten verloren, die mir ständig Gesellschaft leisteten. Sie starb jung – mit kaum dreiundzwanzig, und ihre
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