Der schwarze Schleier
hinterbliebene Schwester ist alles andere als kräftig. Die Welt ist ein Grab!«
Er sagte dies mit tiefem Gefühl, und ich spürte, dass er mir für mein kühles Gebaren einen Vorwurf machen wollte. Kälte und Misstrauen waren in mir, das wusste ich, durch meine schlechten Erfahrungen erzeugt worden, sie lagen nicht in meiner Natur; und ich dachte oft daran, wie viel ich im Leben verloren hatte, als ich das Vertrauen verlor, und wie wenig ich gewonnen hatte, als ich harte Vorsicht gewann. Da mir dieser Gemüts- und Geisteszustandzur Gewohnheit geworden war, machte ich mir mehr Sorgen über dieses Gespräch, als ich mir Sorgen über eine gewichtigere Angelegenheit gemacht hätte. Ich lauschte beim Essen seinen Worten und beobachtete, wie bereitwillig andere Männer darauf eingingen und mit welch elegantem Instinkt er seine Themen an das Wissen und die Gewohnheiten derjenigen anpasste, mit denen er sprach. So wie er, als er mit mir redete, mit Leichtigkeit das Thema angesprochen hatte, von dem man annehmen konnte, dass ich es am besten verstand, und für das ich mich am meisten interessieren würde, so ließ er sich im Gespräch mit anderen von der gleichen Regel leiten. Die Gesellschaft war gemischt; aber er kam, das konnte ich entdecken, bei keinem Anwesenden in Verlegenheit. Er wusste gerade genug über die Beschäftigung jedes Mannes, um sich diesem dadurch angenehm zu machen, dass er Bezug darauf nahm, und gerade so wenig, dass es für ihn natürlich war, bescheiden um Informationen zu bitten, wenn ein Thema angeschnitten wurde.
Während er redete und redete – aber wirklich nicht zu viel, denn wir anderen schienen ihm die Gespräche geradezu aufzudrängen –, wurde ich ziemlich wütend auf mich. Ich zerlegte im Geiste sein Gesicht in Einzelteile wie eine Uhr und untersuchte es in allen Details. Ich konnte nicht viel gegen jeden Wesenszug für sich sagen, noch viel weniger konnte ich gegen sie alle sagen, nachdem ich sie wieder zusammengesetzt hatte. »Ist es dann aber nicht ungeheuerlich«, fragte ich mich, »dass ich mir, nur weil dieser Mann zufällig einen schnurgeraden Mittelscheitel trägt, erlaube, ihn zu verdächtigen, ja, sogar zu verabscheuen?«
(Lassen Sie mich hier innehalten, um anzumerken, dass dies nicht etwa ein Beweis für meinen Verstand war. Ein Menschenbeobachter, der feststellt, dass ihn ein anscheinend lächerliches Detail an einem Fremden dauerhaftabstößt, tut gut daran, diesem Detail großes Gewicht beizumessen. Denn es könnte der Hinweis auf das ganze Mysterium sein. Ein, zwei Haare können einem zeigen, wo der Löwe versteckt ist. Ein sehr kleiner Schlüssel kann eine sehr schwere Tür öffnen.)
Nach einer Weile übernahm ich meinen Part im Gespräch mit ihm, und wir kamen bemerkenswert gut miteinander aus. Im Salon fragte ich den Gastgeber, wie lange er Mr. Slinkton bereits kannte. Er antwortete, noch nicht viele Monate. Er hatte ihn im Haus eines gefeierten, damals hier ansässigen Malers kennengelernt, der ihn gut gekannt hatte, als er mit seinen Nichten der Gesundheit wegen durch Italien reiste. Nachdem der Tod einer der Nichten seine Lebenspläne durchkreuzt hatte, besuchte er nun Vorlesungen, in der Absicht, an die Universität zurückzukehren, seinen Abschluss zu machen und Geistlicher zu werden.
Ich kam nicht umhin, mir selbst gegenüber das Argument ins Feld zu führen, dass dies wohl die wahre Erklärung für sein Interesse am armen Meltham war und dass ich in meinem Misstrauen gegen diesen schlichten Mann beinahe zu hart gewesen war.
III.
Am übernächsten Tag saß ich wie immer hinter meiner Glastrennwand, als er wie zuvor ins äußere Kontor kam. In dem Augenblick, als ich ihn erneut sah, ohne ihn zu hören, hasste ich ihn mehr denn je zuvor.
Ich hatte die Gelegenheit dazu nur einen Augenblick lang; denn noch in der gleichen Sekunde, als ich ihn anblickte, winkte er mir mit seinem eng sitzenden schwarzen Handschuh und kam geradewegs herein.
»Mr. Sampson, guten Tag! Ich erkühne mich, wie Sie sehen, auf Ihre freundliche Aufforderung zurückzukommen, Sie zu stören. Ich halte allerdings nicht darin Wort, dass mein Geschäft dieses Eindringen rechtfertigt, denn mein Geschäft hier – wenn ich das Wort so missbrauchen darf – ist von höchst geringer Art.«
Ich fragte, ob es etwas wäre, bei dem ich ihm behilflich sein könnte?
»Ich danke Ihnen, nein.«
Ich fragte ihn, ob ich ihm irgendwie beistehen könnte?
»Ich danke Ihnen, nein. Ich bin nur
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