Der schwarze Schleier
eine Ungereimtheit, die ich nicht mit irgendeiner wahrscheinlichen Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen vermag. Dieser Mensch ist heute Nacht dem Tode nah, und ich darf ihn nicht sehen, obwohl mein Eingreifen möglicherweise Abhilfe schaffen könnte; Sie vermuten, dass es vielleicht auch morgen vergebens sein könnte, und doch möchten Sie, dass ich ihn dann untersuche! Wenn er Ihnen nun tatsächlich so sehr am Herzen liegt, wie das Ihre Worte und Ihr Verhalten andeuten, warum versuchen Sie nicht, sein Leben zu retten, ehe weiterer Aufschub und der Fortschritt seiner Krankheit dies unmöglich machen?«
»Gott steh mir bei!«, rief die Frau, bitterlich weinend, »wie kann ich hoffen, dass Fremde mir glauben, was doch unglaublich scheint, sogar mir? Sie werden ihn also morgen nicht untersuchen, Sir?«, fügte sie hinzu und erhob sich unvermittelt.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich mich weigere, ihn zu untersuchen«, erwiderte der Arzt, »aber ich warne Sie, dass eine furchtbare Verantwortung auf Ihnen lastet, wenn Sie mit Ihrer außerordentlichen Zögerlichkeit fortfahren und dieser Mensch sterben sollte.«
»Irgendwo lastet die Verantwortung immer schwer«, antwortete die Fremde bitter. »Was an Verantwortung auf mir liegt, trage ich gern, und ich bin bereit, mich dafür zu rechtfertigen.«
»Da ich keine Verantwortung übernehme«, fuhr der Arzt fort, »wenn ich Ihrem Wunsch entspreche, werde ich ihn mir am Morgen ansehen, falls Sie mir die Adresse hinterlassen. Zu welcher Stunde ist dies möglich?«
»Um neun«, erwiderte die Fremde.
»Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie weiter mit meinen Fragen bedränge«, sagte der Arzt, »aber ist er im Augenblick in Ihrer Obhut?«
»Nein, das ist er nicht«, war die Erwiderung.
»Dann könnten Sie ihm, wenn ich Ihnen Anweisungen für seine Behandlung während der Nacht gäbe, nicht helfen?«
Die Frau weinte bitterlich, als sie antwortete: »Das könnte ich nicht.«
Da er feststellen musste, dass nur wenig Aussicht darauf bestand, durch eine Verlängerung der Befragung mehr zu erfahren, und weil er bedacht darauf war, die Gefühle der Frau zu schonen, die diese zunächst mit gewaltiger Willensanstrengung unterdrückt hatte, die aber nun unbezähmbarschienen und äußerst schmerzlich mit anzusehen waren, wiederholte der Arzt sein Versprechen, am nächsten Morgen zur verabredeten Stunde vorbeizukommen. Nachdem ihm seine Besucherin eine Wegbeschreibung in einen finsteren Teil von Walworth gegeben hatte, verließ sie das Haus auf die gleiche geheimnisvolle Weise, wie sie eingetreten war. Man wird nur zu bereitwillig glauben, dass ein derart außergewöhnlicher Besuch einen erheblichen Eindruck auf den Geist des jungen Arztes machte und dass er sehr viel und mit sehr geringem Erfolg über die möglichen Umstände dieses Falles nachgrübelte.
Wie die Mehrzahl aller Menschen hatte er oft von einzigartigen Umständen gehört und gelesen, in denen jemand einen Tod für einen bestimmten Tag, ja sogar eine bestimmte Minute vorausgeahnt und diese Vorahnung sich bewahrheitet hatte. Im einen Augenblick neigte er zu dem Gedanken, der gegenwärtige Fall könnte ein solches Vorkommnis sein, aber dann wiederum fiel ihm ein, dass alle Anekdoten dieser Art, die er je gehört hatte, von Personen gehandelt hatten, die eine Vorahnung ihres eigenen Todes gequält hatte. Diese Frau jedoch sprach von einer anderen Person, einem Mann; und er konnte unmöglich annehmen, dass ein bloßer Traum oder ein Hirngespinst sie dazu bewegt haben mochte, mit einer so schrecklichen Sicherheit von seinem näherrückenden Dahinscheiden zu sprechen, wie sie es getan hatte. Es konnte doch nicht etwa sein, dass der Mann am Morgen ermordet werden sollte und dass die Frau, die ursprünglich zugestimmt hatte und durch einen Eid zum Schweigen verurteilt war, Mitleid verspürt hatte und nun zwar nicht mehr in der Lage war, diese Gewalttat gegen das Opfer zu verhindern, aber doch entschlossen war, nach Möglichkeit seinen Tod zu verhindern, indemsie ihm rechtzeitig medizinischen Beistand verschaffte? Die bloße Vorstellung, dass derlei Dinge in einem Umkreis von zwei Meilen um die Metropole geschahen, schien ihm zu abwegig und zu grotesk, als dass er sie länger als nur einen Augenblick gehegt hätte. Dann drängte sich wieder sein ursprünglicher Eindruck in den Vordergrund, dass der Geist der Frau verwirrt war; und da dies die einzige Art war, dieses schwierige Rätsel überhaupt zu seiner Zufriedenheit
Weitere Kostenlose Bücher