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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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So waren die Möglichkeiten, verwegene Gestalten zu entdecken oder sie bis zu ihren Schlupfwinkeln zu verfolgen, außerordentlich rar, und natürlich wurden diese immer kühner in ihren Missetaten, weil die tägliche Erfahrung ihnen den Eindruck vermittelte, dass sie sich hier in verhältnismäßiger Sicherheit wiegen konnten.
    Zusätzlich zu all diesen Erwägungen sollte man sich auch daran erinnern, dass der junge Mann einige Zeit in den öffentlichen Krankenhäusern der Metropole verbrachthatte; und obwohl weder Burke noch Bishop 1 damals bereits ihre schreckliche Berühmtheit erlangt hatten, hätten ihm doch seine eigenen Beobachtungen nahelegen können, wie leicht es wäre, die Schreckenstaten zu begehen, denen der Erstere inzwischen seinen Namen geliehen hat 2 . Welche Überlegung ihn auch immer zum Zögern bewegte, er zögerte jedenfalls: Aber da er ein junger Mann von starkem Willen und großem persönlichem Mut war, währte dies nur einen Augenblick; dann schritt er rasch zum Haus zurück und klopfte artig an die Tür.
    Sogleich war ein leises Flüstern zu vernehmen, als unterhielte sich am Ende des Flures jemand heimlich mit einer anderen Person, die oben am Treppengeländer stand. Darauf folgte das Geräusch von schweren Stiefeln auf dem nackten Fußboden. Die Türkette wurde leise entfernt; die Tür ging auf, und es erschien ein großer hässlicher Mann mit schwarzem Haar und einem Gesicht, das, wie der Arzt später oft versicherte, so bleich und ausgezehrt wirkte wie das einer jeden Leiche, die er je zu Augen bekommen hatte.
    »Treten Sie ein, Sir«, sagte der Mann mit leiser Stimme.
    Das tat der Arzt, und nachdem der Mann die Tür wieder mit der Kette gesichert hatte, schritt er voran in ein kleines Hinterzimmer am äußersten anderen Ende des Korridors.
    »Bin ich rechtzeitig gekommen?«
    »Zu früh!«, erwiderte der Mann. Der Arzt wandte sich hastig und mit einer Geste des Erstaunens um, die nichtohne Schrecken war, den er zu unterdrücken außerstande war.
    »Wenn Sie hier eintreten wollen, Sir«, sagte der Mann, der diese Bewegung offensichtlich bemerkt hatte. »Wenn Sie hier eintreten wollen, Sir. Sie werden keine fünf Minuten warten müssen, das versichere ich Ihnen.«
    Der Arzt ging unverzüglich in das Zimmer. Der Mann schloss die Tür und ließ ihn allein zurück.
    Es war ein kleiner kalter Raum, in dem außer zwei Holzstühlen und einem Tisch aus dem gleichen Material keine anderen Möbel standen. Ein Feuer aus einer bloßen Handvoll Scheite brannte, ungeschützt durch einen Ofenschirm, im Kamin und betonte eher die Feuchtigkeit, als einem angenehmeren Zwecke zu dienen, denn die ungesunde Feuchtigkeit kroch in langen, schneckengleichen Bahnen die Wände herab. Das Fenster, das an vielen Stellen zerbrochen und geflickt war, gab den Blick auf ein kleines, von Mauern umschlossenes Stück Erde frei, das beinahe völlig mit Wasser bedeckt war. Kein Geräusch war zu vernehmen, weder im Haus noch draußen.
    Der junge Mann setzte sich neben den Kamin, um das Ergebnis seines ersten offiziellen Arztbesuchs abzuwarten. Er hatte noch nicht viele Minuten in dieser Haltung verharrt, als ihm das Geräusch eines sich nähernden Gefährts an die Ohren drang. Der Wagen blieb stehen; die Tür zur Straße wurde geöffnet; ein leises Gespräch folgte, begleitet vom Geräusch schlurfender Schritte, den Flur entlang und die Treppe hinauf, als wären zwei oder drei Männer damit beschäftigt, irgendetwas Schweres in das Zimmer oben zu schleppen. Das Knarren der Treppe verkündete wenige Sekunden später, dass die Neuankömmlinge ihre Aufgabe, worin immer sie bestanden haben mochte, erledigt hatten und nun das Haus verließen. Die Tür wurdeerneut verschlossen, und die vormalige Stille war wieder hergestellt.
    Weitere fünf Minuten waren verstrichen, und der Arzt hatte gerade den Entschluss gefasst, sich im Haus nach jemandem umzusehen, dem er seinen Auftrag erklären könnte, als die Zimmertür aufging und seine Besucherin vom Vorabend, genauso gekleidet, den Schleier wie zuvor über das Gesicht gezogen, ihn mit einer Handbewegung aufforderte, sich ihr anzuschließen. Die außergewöhnliche Größe ihrer Gestalt, gepaart mit der Tatsache, dass sie nicht sprach, ließ ihm einen Augenblick lang die Vermutung durch den Kopf schießen, sie könnte ein Mann in Frauenkleidern sein. Das hysterische Schluchzen, das unter dem Schleier hervor zu hören war, und die verkrampfte Körperhaltung größten Schmerzes, der die ganze

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