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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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zu lösen, war er hartnäckig entschlossen, sie für verrückt zu halten. Doch es stahlen sich ständig gewisse Zweifel an dieser Erklärung in seine Gedanken, und sie drangen immer und immer wieder vor während dieser langen, trübseligen und schlaflosen Nacht, in deren Verlauf er trotz aller Bemühungen nicht in der Lage war, den schwarzen Schleier aus seiner verstörten Phantasie zu verdrängen.
    Der hinterste Teil von Walworth, der am weitesten von der Stadtmitte entfernt liegt, ist auch heute noch ein spärlich besiedelter, jämmerlicher Bezirk; aber vor fünfunddreißig Jahren war der größte Teil kaum mehr als eine trostlose Ödnis, die von wenigen, weit verstreut lebenden Menschen von höchst zweifelhaftem Charakter bewohnt wurde, deren Armut verhinderte, dass sie in einer besseren Gegend Quartier genommen hatten, oder deren Beschäftigung und Lebensweise die Abgeschiedenheit dieses Stadtteils für wünschenswert erscheinen ließen.
    Viele der Häuser, die seither hier allerorten aus dem Boden geschossen sind, wurden erst einige Jahre später errichtet; und selbst die meisten der in unregelmäßigen Abständen verstreut liegenden Behausungen waren von gröbster und armseligster Bauart.
    Der Anblick der Gegend, durch die der junge Arzt am Morgen schritt, war also nicht geeignet, seine Stimmung zuheben oder die Angst und Niedergeschlagenheit zu vertreiben, die der außergewöhnliche Besuch, der vor ihm lag, in ihm geweckt hatte. Sobald er von der Hauptstraße abgebogen war, führte sein Weg über einen versumpften Anger, durch verwinkelte Gassen, an denen hier und da eine baufällige oder halb abgerissene Kate stand, die durch Verfall und Vernachlässigung rasch dem Ruin anheimfiel. Ein verkrüppelter Baum oder ein Tümpel abgestandenen Wassers, durch die heftigen Regenfälle der Nacht in schwerfällige Bewegung versetzt, säumten den Pfad; und ab und an zeugte ein elendes kleines Gartengrundstück, wo man ein paar alte Bretter zu einer Art Sommerhaus zusammengenagelt hatte und dessen alter Zaun nur unvollkommen mit Latten ausgebessert war, die aus Nachbarzäunen stibitzt waren, gleichzeitig von der Armut der Bewohner und den geringen Skrupeln, die sie hatten, wenn es darum ging, das Eigentum anderer zu ihrem eigenen Nutzen zu verwenden. Gelegentlich erschien eine schmuddelig aussehende Frau in der Tür eines schmutzigen Hauses, um den Inhalt eines Kochgeschirrs in die Gosse zu schütten oder einem zerlumpten kleinen Mädchen etwas hinterherzukreischen, das es geschafft hatte, unter dem Gewicht eines blässlichen Säuglings, der beinahe so groß war wie es selbst, einige wenige Meter von der Tür fortzutaumeln; doch sonst regte sich kaum etwas: Und was er durch den kalten, feuchten Dunst kaum ausmachen konnte, der schwer über allem hing, wirkte einsam und trostlos, in vollkommenem Einklang mit den hier beschriebenen Umständen.
    Nachdem er matt und müde durch Schlamm und Unrat gestapft war, sich unzählige Male nach dem Ort erkundigt hatte, zu dem man ihn gebeten hatte, und darauf genauso viele widersprüchliche und wenig zufriedenstellende Auskünfte erhalten hatte, kam der junge Mann vor dem Hausan, das man ihm als sein Ziel ausgewiesen hatte. Es war ein kleines, niedriges Gebäude, nur ein Stockwerk über dem Erdboden, und es bot einen noch desolateren und weniger verheißungsvollen Anblick als alle anderen, an denen er bisher vorübergekommen war. Ein alter gelber Vorhang war dicht vor das Fenster im Obergeschoss gezogen, und die Fensterläden des Wohnzimmers waren geschlossen, wenn auch nicht fest verriegelt. Das Haus stand allein, und da es schräg in eine schmale Gasse ragte, war von hier keinerlei andere Behausung zu sehen.
    Wenn wir sagen, dass der Arzt zögerte und einige Schritte am Haus vorbeiging, ehe er sich überwinden konnte, den Türklopfer anzuheben, so sagen wir nichts, das selbst dem kühnsten Leser ein mildes Lächeln auf die Lippen bringen sollte. Die Polizei von London war zu dieser Zeit eine völlig andere, als sie es heute ist; die abgeschiedene Lage der Vororte machte damals, als die Bauwut und der Fortschrittseifer noch nicht begonnen hatten, sie mit dem Zentrum der Stadt und mit ihrer Umgebung zu verbinden, viele von ihnen (und diesen insbesondere) zu Orten, in die sich die schlimmsten und verruchtesten Naturen zurückzogen. Selbst die Straßen in den belebtesten Vierteln Londons waren nur unvollkommen beleuchtet; und Orte wie dieser waren gänzlich auf Mond und Sterne angewiesen.

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