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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Gestalt ergriffen hatte, enthüllten ihm sofort, wie absurd dieser Verdacht gewesen war, und er folgte ihr eilends.
    Die Frau führte ihn die Treppe hinauf und ins Vorderzimmer, blieb dann an der Tür stehen, um ihn zuerst eintreten zu lassen. Der Raum war spärlich eingerichtet, mit einer alten Holztruhe, einigen wenigen Stühlen und einem Himmelbett, das jedoch keinerlei Vorhänge oder Querstreben hatte und mit einem aus Flicken zusammengenähten Bettüberwurf bedeckt war. Das trübe Licht, das durch den Vorhang drang, den er von draußen bemerkt hatte, ließ die Gegenstände im Zimmer so undeutlich erscheinen und gab ihnen allen einen so gleichmäßigen Farbton, dass er zunächst den Gegenstand nicht wahrnahm, auf den seine Augen sofort fielen, als die Frau wie wahnsinnig an ihm vorübereilte und sich neben dem Bett auf die Knie warf.
    Auf dem Bett ausgestreckt, eng in ein leinenes Tuch eingeschlagen und mit Decken umhüllt, lag da eine menschliche Gestalt, steif und reglos. Kopf und Gesicht, die einesMannes, waren bis auf einen Verband, der über den Kopf und unter dem Kinn hindurch verlief, unbedeckt. Die Augen waren geschlossen. Der linke Arm lag schwer auf dem Bett, und die Frau hielt die reglose Hand.
    Sanft drängte der Arzt die Frau zur Seite und nahm die Hand in die seine.
    »Mein Gott!«, rief er aus und ließ sie unwillkürlich sinken, »der Mann ist tot!«
    Die Frau sprang auf und schlug die Hände zusammen. »Oh! Sagen Sie das nicht, Sir!«, rief sie in einem Ausbruch von Leidenschaft, der beinahe an Wahnsinn grenzte. »Oh! Sagen Sie das nicht, Sir! Ich kann es nicht ertragen. Es sind doch schon Menschen wieder zum Leben erweckt worden, nachdem ungeschickte Leute sie aufgegeben hatten; und Männer sind gestorben, die vielleicht wiederhergestellt worden wären, wenn man die richtigen Mittel eingesetzt hätte. Lassen Sie ihn nicht dort liegen, Sir, ohne zumindest eine Anstrengung unternommen zu haben, um ihn zu retten! Gerade jetzt, in diesem Augenblick schwinden vielleicht seine Lebensgeister. Versuchen Sie es bitte, Sir! Bitte, um des lieben Himmels willen!« Und während sie so sprach, rieb sie vergeblich erst über die Stirn, dann über die Brust der leblosen Gestalt; und schließlich schlug sie wild auf die kalten Hände ein, die, sobald sie sie nicht mehr festhielt, schlapp und schwer auf die Bettdecke zurückfielen.
    »Es hat keinen Sinn, meine gute Frau«, sagte der Arzt besänftigend, als er seine Hand von der Brust des Mannes nahm. »Bleiben Sie noch. Ziehen Sie den Vorhang auf!«
    »Warum?«, fragte die Frau und fuhr hoch.
    »Ziehen Sie den Vorhang auf!«, wiederholte der Arzt in erregtem Ton.
    »Ich habe das Zimmer absichtlich verdunkelt«, sagte die Frau und warf sich ihm in den Weg, als er aufstand, um denVorhang aufzuziehen. »Oh! Sir, haben Sie Erbarmen mit mir! Wenn alles nichts nützt und er wirklich tot ist, dann enthüllen Sie seine Gestalt keinen Augen außer den meinen!«
    »Dieser Mann ist keines natürlichen und keines leichten Todes gestorben«, sagte der Arzt. »Ich
muss
mir die Leiche anschauen!« Mit einer Bewegung, die so abrupt war, dass die Frau kaum wusste, dass er von ihrer Seite gewichen war, riss er den Vorhang auf, ließ das volle Tageslicht herein und kehrte zum Bett zurück.
    »Hier war Gewalt im Spiel«, konstatierte er, deutete auf den Leichnam und starrte unverwandt auf das Gesicht, von dem nun zum ersten Mal der schwarze Schleier gelüftet war. In der Erregung des vergangenen Augenblicks hatte die Unbekannte Haube und Schleier abgeworfen und stand nun mit fest auf ihn gerichteten Augen da. Ihre Züge waren die einer Frau von etwa fünfzig Jahren, die einst schön gewesen war. Kummer und Tränen hatten Spuren auf ihnen hinterlassen, die nicht einmal die Zeit ohne deren Hilfe hätte eingraben können; ihr Gesicht war totenblass; die Lippen waren von Erregung verzerrt, und in den Augen blitzte ein unnatürliches Feuer, das nur zu deutlich zeigte, dass ihre körperlichen und seelischen Kräfte beinahe unter einer Anhäufung größten Leids vergangen waren.
    »Hier war Gewalt im Spiel«, wiederholte der Arzt und wandte seinen forschenden Blick nicht ab.
    »Das stimmt«, erwiderte die Frau.
    »Dieser Mann ist ermordet worden.«
    »So wahr Gott mein Zeuge ist, so ist es gewesen«, sagte die Frau leidenschaftlich, »erbarmungslos und unmenschlich ermordet!«
    »Von wem?«, fragte der Arzt und packte die Frau beim Arm.
    »Sehen Sie sich die Zeichen des Schlächters an,

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