Der schwarze Schleier
Kopf.
Zunächst überlegte er, wie wild der Wind wehte und wie ihm der kalte, scharfe Regen jetzt ins Gesicht peitschen würde, säße er nicht geborgen zu Hause. Dann wanderten seine Gedanken wieder zu dem alljährlichen weihnachtlichen Besuch in seinem Geburtsort und bei seinen liebsten Freunden; er überlegte, wie froh sie alle sein würden, ihn zu sehen, und wie glücklich Rose sein würde, könnte er ihr nur berichten, dass er endlich einen Patienten gefunden hatte und auf weitere hoffen durfte und dass er in wenigen Monaten wiederkommen und sie heiraten würde und sie dann mit sich in sein Zuhause zurücknehmen würde, auf dass sie ihm sein einsames Heim mit Freude erfülle und ihn zu neuen Anstrengungen beflügle.
Dann begann er sich zu fragen, wann endlich dieser erstePatient auftauchen würde oder ob ihn ein besonderes Schicksal dazu bestimmt hatte, niemals Patienten zu haben; und dann dachte er wieder an Rose und schlief ein und träumte von ihr, bis er den Klang ihrer süßen, fröhlichen Stimme in seinen Ohren hörte und ihre weiche, kleine Hand auf der Schulter spürte.
Es lag auch wirklich eine Hand auf seiner Schulter, aber sie war weder weich noch klein; sie gehörte einem stämmigen, mondgesichtigen Jungen, der ihm von der Gemeinde für die Summe von einem Shilling in der Woche und Verpflegung für Botengänge zur Verfügung gestellt wurde, um Arzneimittel und Nachrichten auszutragen. Da jedoch im Augenblick kein Bedarf an Arzneien bestand und es auch keine Notwendigkeit für Nachrichten gab, verbrachte der Bengel gewöhnlich seine Mußestunden – im Mittel etwa vierzehn am Tag – damit, Pfefferminzdragees zu stibitzen, ungeheuer viel zu essen und einzuschlafen.
»Eine Dame, Sir, eine Dame!«, flüsterte der Junge und rüttelte seinen Herrn wach.
»Was für eine Dame?«, rief unser Freund, gerade aus dem Schlaf hochgefahren, nicht sicher, ob sein Traum ein Hirngespinst war, und halb erwartend, dass es Rose persönlich sein könnte. »Was für eine Dame? Wo?«
»Da, Sir!«, erwiderte der Junge und deutete auf die Glastür, die in die Praxisräume führte, mit einem Ausdruck höchsten Erschreckens, den wohl das unerwartete Erscheinen einer Patientin hervorgerufen haben mochte.
Der Arzt blickte zur Tür und zuckte selbst einen Augenblick zusammen, als er die Erscheinung seiner unbekannten Besucherin wahrnahm.
Sie war eine außerordentlich große Frau, die in tiefe Trauer gekleidet war und so nah bei der Tür verweilte, dassihr Gesicht beinahe die Glasscheibe berührte. Der obere Teil ihrer Gestalt war sorgfältig in einen schwarzen Schal gehüllt, als wolle sie ihn verbergen; und ihr Gesicht war durch einen dichten schwarzen Schleier verdeckt. Sie hielt sich vollkommen gerade und hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, und obwohl der Arzt spürte, dass die Augen unter dem Schleier starr auf ihn blickten, stand sie völlig reglos da und verriet mit keiner einzigen Geste, dass ihr auch nur im Geringsten bewusst geworden war, dass er sich ihr zugewendet hatte.
»Wünschen Sie mich zu konsultieren?«, erkundigte er sich mit einigem Zögern und hielt ihr die Tür auf. Die ging nach innen auf, und daher veränderte diese Handlung nichts an der Position der Besucherin, die weiterhin reglos am gleichen Fleck verharrte.
Sie neigte als Zeichen ihrer Zustimmung leicht den Kopf. »Bitte treten Sie doch ein«, sagte der Arzt.
Die Gestalt machte einen Schritt auf ihn zu; und dann schien sie, während sie den Kopf wieder – zu dessen unendlichem Schrecken – dem Jungen zuwandte, leicht zu zögern. »Verlasse den Raum, Tom«, sagte der junge Mann zu dem Burschen, der die großen runden Augen während dieser kurzen Unterredung so weit aufgerissen hatte, wie es nur ging.
»Schließe den Vorhang, und mache die Tür zu.«
Der Junge zog einen grünen Vorhang vor den Glasteil der Tür, ging dann in die Praxis, schloss die Tür hinter sich und drückte sogleich auf der anderen Seite eines seiner großen Augen an das Schlüsselloch.
Der Arzt schob einen Stuhl näher an den Kamin und lud seine Besucherin mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen. Die geheimnisvolle Gestalt bewegte sich langsam darauf zu. Als der Feuerschein auf ihr schwarzes Gewandfiel, nahm der Arzt wahr, dass der Saum von Schlamm und Regenwasser durchtränkt war.
»Sie sind sehr nass«, sagte er.
»Das bin ich«, erwiderte die Fremde mit leiser, tiefer Stimme.
»Und Sie sind krank?«, fügte der Arzt mitleidig hinzu, denn ihr
Weitere Kostenlose Bücher