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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Tonfall war der eines Menschen, der an Schmerzen leidet.
    »Ja«, war die Antwort, »sehr krank; nicht körperlich, sondern seelisch. Ich bin nicht um meinetwillen oder in meinem Namen zu Ihnen gekommen«, fuhr die Fremde fort. »Wenn ich an einer körperlichen Krankheit litte, wäre ich nicht allein, nicht zu dieser Stunde oder in einer Nacht wie der heutigen unterwegs; und wenn ich von dergleichen betroffen würde, innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden, wie gern würde ich mich dann hinlegen und um den Tod beten. Nein, ich flehe Sie um eines anderen willen um Ihre Hilfe an, Sir. Ich mag von Sinnen sein, für ihn darum zu bitten – bin es wohl wirklich; aber Nacht für Nacht stand mir während der vielen langen, trostlosen Stunden des Beobachtens und Weinens dieser Gedanke stets vor Augen; und obwohl sogar ich einsehe, wie hoffnungslos die Vorstellung ist, Menschenhand könnte ihm noch helfen, so gerinnt mir doch das Blut in den Adern, wenn ich nur daran denke, dass ich ihn ohne einen Versuch der Hilfe ins Grab legen sollte!« Ein Schauder erschütterte die Gestalt der Sprechenden, wie ihn, das wusste der Arzt wohl, keine Schauspielkunst hervorzubringen vermochte.
    Es lag ein verzweifelter Ernst im Gebaren dieser Frau, der dem jungen Mann zu Herzen ging. Er übte seinen Beruf noch nicht lange aus und hatte noch nicht genug Elend erlebt, wie es täglich den Mitgliedern des Ärztestandesvor Augen geführt wird, und so hatte er sich noch nicht gegen das menschliche Leiden verhärtet.
    »Wenn«, erwiderte er, sich eilends erhebend, »die Person, von der Sie sprechen, in einem so hoffnungslosen Zustand ist, wie Sie es beschreiben, ist kein Augenblick zu verlieren. Ich werde unverzüglich mit Ihnen kommen. Warum haben Sie nicht schon früher medizinischen Rat gesucht?«
    »Weil es bis jetzt nutzlos gewesen wäre – weil es sogar jetzt nutzlos ist«, antwortete die Frau und rang verzweifelt die Hände.
    Der Arzt starrte einen Augenblick lang auf den schwarzen Schleier, als wolle er sich des Ausdrucks auf den Gesichtszügen darunter versichern; doch der Stoff war so dicht, dass ihm dies unmöglich war.
    »Sie sind krank«, sagte er sanft, »auch wenn Sie es nicht wissen. Das Fieber, das Sie in die Lage versetzt hat, die Übermüdung, an der Sie offensichtlich seit einiger Zeit leiden, zu ertragen, ohne sie zu spüren, brennt nun in Ihnen. Führen Sie dies an die Lippen«, sprach er weiter und schenkte ihr ein Glas Wasser ein, »und sammeln Sie sich einige Augenblicke, und dann berichten Sie mir, so ruhig Sie können, was die Krankheit des Patienten ist und wie lange er schon darunter leidet. Wenn ich alles weiß, was ich wissen muss, damit mein Besuch für ihn von Nutzen sein kann, bin ich bereit, Sie zu ihm zu begleiten.«
    Die Fremde führte das Wasserglas an den Mund, ohne den Schleier zu lüften; sie setzte es wieder ab, ohne davon gekostet zu haben, und brach in Tränen aus.
    »Ich weiß«, begann sie laut schluchzend, »das, was ich Ihnen jetzt erzähle, mag Ihnen wie eine Fieberphantasie vorkommen. Das hat man mir schon früher bedeutet, wenn auch in weniger freundlichen Worten als Sie. Ich bin keine junge Frau mehr; und man sagt, dass einem, wenn sich dasLeben schleichend auf seinen Abschluss zubewegt, der letzte kurze Rest, wie wertlos er auch allen anderen erscheinen mag, wertvoller ist als all die Jahre, die davor vergangen sind, so sehr sie auch mit der Erinnerung an alte, längst verstorbene Freunde verknüpft sind oder an junge – vielleicht Kinder –, die sich von einem abgewandt und einen so vollkommen vergessen haben, als wären auch sie bereits gestorben. Meine Jahre sind gezählt, und sie sollten mir deswegen lieb und teuer sein; aber ich würde sie ohne einen Seufzer – fröhlich – voller Freude – eintauschen, wenn das, was ich Ihnen jetzt berichte, nur falsch oder eingebildet wäre. Morgen früh wird er, von dem ich Ihnen gerade spreche, jenseits aller menschlichen Hilfe sein, das weiß ich, wenn ich auch gern wünschte, dem wäre nicht so; und doch dürfen Sie ihn, selbst wenn er in tödlicher Gefahr schwebte, heute Nacht nicht sehen und könnten ihm auch keine Dienste erweisen.«
    »Ich erhöhe Ihre Bedrängnis nur ungern«, erwiderte der Arzt nach einer kurzen Pause, »indem ich meine Anmerkungen zu dem mache, was Sie mir gerade gesagt haben, oder indem ich den Anschein erwecke, etwas, das Sie so ängstlich zu verbergen suchen, näher erkunden zu wollen; aber in Ihren Worten gibt es

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