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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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für möglich hielte, dass du dieses Wort verstehst. Als sie geopfert wurde, war er völlig von deiner Schuld überzeugt. Nachdem er sie verloren hatte, gab es für ihn nur noch ein Ziel im Leben, und das war, sie zu rächen und dich zu zerstören.«
    Ich bemerkte, wie die Nasenflügel des Schurken sich krampfhaft aufblähten und wieder zusammenfielen, aber ich sah keine Mundbewegung.
    »Dieser Meltham«, fuhr Beckwith unbeirrt fort, »war sich so absolut sicher, dass du ihm auf dieser Welt nicht entkommen könntest, wenn er sich nur mit äußersterTreue und Ernsthaftigkeit deiner Zerstörung widmete und wenn er außer dieser heiligen Pflicht keine andere Aufgabe mehr wahrnahm, wie er sich sicher war, dass er, wenn er dies erreichte, nur ein armseliges Instrument der Vorsehung wäre und es dem Himmel gefallen würde, wenn er dich aus dem Reich der Lebenden tilgte. Ich bin dieser Mann, und ich danke Gott, dass ich meine Arbeit vollendet habe!«
    Wäre Slinkton ein Dutzend Meilen vor leichtfüßigen Wilden um sein Leben gerannt, so hätte er keine deutlicheren Anzeichen für ein bedrängt pochendes Herz und ein Ringen nach Atem vorweisen können, als er dies jetzt tat, während er zu seinem Jäger schaute, der ihn so erbarmungslos gehetzt hatte.
    »Du hast mich vorher nie unter meinem richtigen Namen gekannt, jetzt siehst du mich unter meinem richtigen Namen. Und du wirst mich noch einmal körperlich vor dir sehen, wenn dir der Prozess um dein Leben gemacht wird. Und dann siehst du mich noch einmal im Geiste, wenn du den Strick um den Hals hast und die Menge dich lauthals beschimpft!«
    Als Meltham diese letzten Worte gesprochen hatte, wandte der Übeltäter plötzlich das Gesicht ab und schien sich mit der flachen Hand auf den Mund zu schlagen. Im gleichen Augenblick erfüllte ein neuer, durchdringender Geruch den Raum, und beinahe gleichzeitig brach er in einen Hakenlauf, Sprung, Ruck – ich weiß nicht, wie ich sonst diesen Krampf beschreiben soll – aus und fiel mit einem dumpfen Aufprall, der die schweren alten Türen und Fenster in den Rahmen erschütterte, zu Boden.
    Das war sein wohlverdientes Ende.
    Als wir sahen, dass er tot war, verließen wir den Raum, und Meltham schüttelte mir die Hand und sagte mit müderMiene: »Ich habe auf Erden keine Aufgabe mehr, mein Freund. Aber ich werde sie bald andernorts sehen.«
    Vergeblich versuchte ich, ihn aufzurichten. Er hätte sie retten können, sagte er, und er hätte sie nicht gerettet, und er machte sich Vorwürfe, er hatte sie verloren, und sein Herz war darüber gebrochen.
    »Der Zweck, der mich aufrecht gehalten hat, ist erfüllt, Sampson, und nun hält mich nichts mehr im Leben. Ich bin nicht mehr lebenstauglich, ich bin schwach und mutlos, ich habe keine Hoffnung und kein Ziel, meine Tage sind vorüber.«
    Wirklich hätte ich kaum glauben mögen, dass der gebrochene Mann, der so zu mir sprach, derselbe Mann war, der mich so stark und so ganz anders beeindruckt hatte, als er noch sein Ziel vor Augen gehabt hatte. Ich brachte alle flehentlichen Bitten vor, die ich konnte, aber immer noch sagte er und sagte es stets geduldig und zurückhaltend: Nichts könne ihn mehr retten – sein Herz sei gebrochen.
    Er starb Anfang des nächsten Frühjahrs. Er wurde neben der armen jungen Dame begraben, für die er diese zärtlichen und unglücklichen Gefühle des Kummers gehegt hatte, und er hinterließ alles, was er hatte, ihrer Schwester. Die führte ein glückliches Leben als Ehefrau und Mutter; sie heiratete den Sohn meiner Schwester, der dem armen Meltham im Amt nachfolgte, sie lebt heute noch, und ihre Kinder reiten auf meinem Spazierstock durch den Garten, wenn ich sie besuchen gehe.

    Erstmals erschienen in Fortsetzungen im August und September 1859 in »The New York Ledger«.

Der schwarze Schleier
    Eines Winterabends gegen Ende des Jahres 1800, vielleicht auch ein Jahr oder zwei früher oder später, saß ein junger Arzt, der sich gerade in diesem Geschäft niedergelassen hatte, in seinem kleinen Wohnzimmer bei einem fröhlich prasselnden Kaminfeuer und lauschte auf den Wind, der den Regen in platschenden Tropfen an die Fensterscheiben schlagen ließ oder grässlich im Schornstein heulte. Es war eine kalte, nasse Nacht; er war den ganzen Tag durch Schlamm und Wasser gewatet, und nun ruhte er sich aus, ganz gemütlich in Schlafrock und Pantoffeln, mehr als zur Hälfte eingeschlafen und weniger als halb wach, und es tanzten ihm Tausende von Gedanken durch den

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