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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Klammergriff der Armut fanden ihren Ausdruck in Mutters Gesicht, in ihrer Körperhaltung und nicht zuletzt in ihrer Stimme. Als drückten knochige Finger einen Lederbeutel zusammen, wurden die scharfen, schrillen Worte aus ihr herausgequetscht, und die Art, wie sie sich beim Schimpfen mit wild rollenden Augen überall im Keller umblickte, hatte etwas Schauerliches und Gieriges. Vater hockte mit hängenden Schultern still auf einem dreibeinigen Schemel und starrte auf den leeren Kaminrost, bis sie den Schemel unter ihm wegzog und ihn anwies, loszuziehen und Geld ins Haus zu schaffen. Dann stieg er niedergeschlagendie Treppe hinauf, und ich, mein zerlumptes Hemd und die Hose mit einer Hand (meinen einzigen Hosenträgern) zusammenhaltend, schlug Haken und duckte mich vor der Verfolgung meiner Mutter, die mich bei den Haaren packen wollte.
    Einen selbstsüchtigen kleinen Teufel nannte Mutter mich gewöhnlich. Ob ich heulte, weil es dunkel um mich war oder weil mir kalt war oder weil ich Hunger hatte, oder ob ich mich in eine warme Ecke drückte, wenn ein Feuer im Kamin brannte, oder gierig alles herunterschlang, wenn es einmal etwas zu essen gab, immer sagte sie: »Oh, du selbstsüchtiger kleiner Teufel!« Und das Schreckliche daran war, dass ich selbst sehr gut wusste, dass ich ein selbstsüchtiger kleiner Teufel war. Selbstsüchtig, weil ich ein Dach über dem Kopf und Wärme haben wollte, selbstsüchtig, weil ich etwas zu essen haben wollte, selbstsüchtig wegen der Gier, mit der ich insgeheim verglich, wie viel ich von all den guten Sachen bekam und wie viel Vater und Mutter bekamen, wenn gute Dinge zu haben waren, was selten genug geschah.
    Manchmal gingen sie beide aus dem Haus, um Arbeit zu suchen, und ich wurde ein, zwei Tage lang im Keller eingesperrt. Dann war ich am allerselbstsüchtigsten. Allein gelassen, gab ich mich ganz dem selbstsüchtigen Verlangen nach genug von allem (außer Elend) hin und dachte daran, dass ich Mutter einmal hatte sagen hören, nach dem Tod ihres Vaters, der Maschinenbauer in Birmingham war, würde sie einen ganzen Häuserblock erben, »wenn man sie nicht ihres Rechtes beraubte«. Ich, der selbstsüchtige kleine Teufel, stand da und bohrte meine kalten nackten Füße nachdenklich in die zerborstenen Ziegelsteine und Spalten des feuchten Kellerbodens – spazierte sozusagen schon vor seinem Tode über den Leichnam meines Großvatersin den ganzen Häuserblock und verkaufte alles für Fleisch und Getränke und Kleider zum Anziehen.
    Schließlich hielt eine Veränderung Einzug in unseren Keller. Die allgemeine Veränderung stieg so tief herunter – genau wie sie sich auch hinaufbegibt auf eine Höhe, wo sich ein menschliches Wesen gerade noch halten kann – und brachte andere Veränderungen mit sich.
    In der finstersten Ecke hatten wir einen Haufen von was weiß ich welchem übelriechenden Unrat, den wir »das Bett« nannten. Drei Tage lang lag Mutter dort, ohne aufzustehen, und dann fing sie an, gelegentlich zu lachen. Wenn ich sie überhaupt je hatte lachen hören, so war das doch so selten gewesen, dass mich der merkwürdige Laut erschreckte. Vater erschreckte er ebenso, und wir reichten ihr abwechselnd Wasser. Dann warf sie den Kopf von einer Seite zur anderen und sang. Als es ihr trotzdem nicht besser ging, begann auch Vater zu lachen und zu singen; und dann war nur noch ich da, um ihnen Wasser zu reichen, und sie starben beide.
    Kapitel 4
    Als mich zwei Männer aus dem Keller holten, nachdem erst einer gekommen war, vorsichtig hereingeschaut hatte, dann weggelaufen war und den anderen mitgebracht hatte, konnte ich das helle Licht auf der Straße kaum ertragen. Ich saß auf dem Bordstein und blinzelte, und Menschen umringten mich, kamen mir aber nicht näher, als ich, meiner Natur als selbstsüchtiger kleiner Teufel entsprechend, das Schweigen brach, indem ich sagte: »Ich habe Hunger und Durst!«
    »Weiß er, dass sie tot sind?«, fragte einer den anderen.
    »Weißt du, dass dein Vater und deine Mutter beide am Fieber gestorben sind?«, fragte mich ein Dritter streng.
    »Ich weiß nicht, was es bedeutet, tot zu sein. Ich denke, das war, als ihnen die Tasse gegen die Zähne stieß und das Wasser herunterlief. Ich habe Hunger und Durst.« Das war alles, was ich dazu zu sagen hatte.
    Der Kreis der Menschen weitete sich von innen nach außen, während ich mich umschaute, und ich roch Essig und etwas, von dem ich heute weiß, dass es Kampfer war, das man dorthin streute, wo ich saß.

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