Der schwarze Schleier
Wahrscheinlich hatte jemand in meiner Nähe einen großen Topf mit dampfendem Essig hingestellt, und dann schauten sie mich alle in stummem Entsetzen an, als ich aß und trank, was man mir brachte. Ich wusste schon damals, dass sie sich vor mir grausten, aber ich konnte nichts daran ändern.
Ich aß und trank immer noch, und ein murmelndes Streitgespräch hatte sich erhoben, was man denn jetzt mit mir machen sollte, als ich eine heisere Stimme irgendwo in dem Menschenring hörte, die sagte: »Ich heiße Hawkyard, Mr. Verity Hawkyard aus West Bromwich.« Dann teilte sich der Ring an einer Stelle, und ein gelbgesichtiger, spitznasiger Herr, der bis zu den Gamaschen ganz in Eisengrau gekleidet war, drängte sich zusammen mit einem Polizisten und irgendeinem anderen Beamten nach vorn. Er ging vor bis nahe zu dem Gefäß mit dem dampfenden Essig und besprengte sich vorsichtig und mich reichlich damit.
»Er hatte einen Großvater in Birmingham, dieser kleine Junge, und der ist auch gerade erst gestorben«, sagte Mr. Hawkyard.
Ich wandte dem Sprecher meine Augen zu und fragte habgierig: »Wo sind seine Häuser?«
»Ha! Welche schreckliche Selbstsucht im Angesicht des Grabes«, meinte Mr. Hawkyard und schüttete noch mehrEssig über mich, als wollte er mir damit meinen Teufel austreiben. »Ich habe eine kleine – eine sehr kleine – Pflicht diesem Jungen gegenüber auf mich genommen, eine freiwillige Pflicht, eine Ehrenpflicht, möglicherweise die Folge eines sentimentalen Gefühls; und doch habe ich sie auf mich genommen, und ihr soll (jawohl, das soll es!) Genüge getan werden.«
Die Umstehenden schienen sich von dem Herrn eine günstigere Meinung zu bilden als von mir.
»Er wird Unterricht erhalten«, meinte Mr. Hawkyard, »(o ja, das wird er!), aber was sollen wir jetzt im Augenblick mit ihm machen? Er hat sich vielleicht angesteckt. Er könnte die Krankheit weitergeben.« Hier weitete sich der Menschenring beträchtlich. »Was sollen wir nur mit ihm machen?«
Er beriet sich eine Weile mit den beiden Beamten. Ich konnte kein Wort außer »Bauernhof« verstehen. Ein anderes wurde mehrmals wiederholt, das meinen Ohren damals aber rein gar nichts bedeutete und das ich später im Nachhinein als »Hoghton Towers« erkannte.
»Ja«, sagte Mr. Hawkyard. »Ich glaube, das klingt vielversprechend. Ja, ich glaube, das klingt hoffnungsvoll. Und er kann ein, zwei Nächte allein in einer Zelle untergebracht werden, meinen Sie?«
Es schien der Polizist zu sein, der das vorgeschlagen hatte, denn er antwortete: »Ja.« Er war es auch, der mich schließlich beim Arm nahm und mich vor sich her durch die Straßen schob bis in einen weiß getünchten Raum in einem kahlen Gebäude, wo ich einen Stuhl hatte, auf dem ich sitzen konnte, einen Tisch, an dem ich sitzen konnte, ein eisernes Bettgestell und eine gute Matratze, worauf ich liegen konnte, und eine Decke und ein Laken, womit ich mich zudecken konnte. Wo ich auch genug Essen hatte und woman mir zeigte, wie ich den Blechnapf, in dem man es mir brachte, polieren konnte, bis er spiegelblank war. Man steckte mich hier auch in eine Badewanne und brachte mir neue Kleider, und meine alten Lumpen wurden verbrannt, und ich wurde auf verschiedene Weise gekampfert und geessigt und desinfiziert.
Als all das geschehen war – ich weiß nicht, wie viele oder wie wenige Tagen damit vergingen, aber das spielt keine Rolle –, kam Mr. Hawkyard zur Tür herein, rührte sich kaum von ihr fort und sagte: »Geh und stell dich an die gegenüberliegende Wand, George Silverman. So weit weg, wie du nur kannst. Das ist gut. Wie fühlst du dich?«
Ich sagte ihm, dass mir nicht kalt wäre und dass ich keinen Hunger und keinen Durst hätte. Das war alles, was man als Mensch, soweit ich wusste, fühlen konnte, mal abgesehen von den Schmerzen, wenn man geschlagen wird.
»Nun«, sagte er, »du gehst jetzt, George, in ein gesundes Bauernhaus, wo du ganz gereinigt wirst. Halte dich dort so viel an der frischen Luft auf, wie du kannst. Führe ein Leben in der freien Natur, bis man dich wieder abholt. Am besten sagst du nicht viel – eigentlich solltest du darauf achten, dass du überhaupt nicht sagst, woran deine Eltern gestorben sind, sonst lassen sie dich dort vielleicht gar nicht ins Haus. Benimm dich ordentlich, dann schicke ich dich in die Schule; o ja, ich schicke dich in die Schule, George, obwohl ich nicht dazu verpflichtet bin. Ich bin ein Diener des Herren, und ich bin ihm ein treuer Diener
Weitere Kostenlose Bücher