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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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gewesen, diese ganzen fünfundzwanzig Jahre lang, jawohl. Der Herr hat an mir einen treuen Diener, und er weiß es.«
    Ich habe keine Ahnung, was ich mir damals darunter vorgestellt habe. Genauso wenig weiß ich, wann ich allmählich begriff, dass er ein herausragendes Mitglied irgendeiner obskuren Sekte oder religiösen Vereinigung war, wo jederallen anderen predigte, wenn er den Drang dazu verspürte, und wo man ihn Bruder Hawkyard nannte. Mir reichte es an jenem Tag in der Zelle, dass ich wusste, dass an der Straßenecke der Karren des Bauern auf mich wartete; denn das war die erste Fahrt meines Lebens.
    Die Reise machte mich schläfrig, also schlief ich. Zuerst starrte ich noch auf die Straßen von Preston, solange sie zu sehen waren; und dabei habe ich mich in meinem Inneren vielleicht stumm gefragt, wo dort wohl unser Keller gewesen sein mochte, aber vielleicht auch nicht. Ich war so ein selbstsüchtiger kleiner Teufel, dass ich keinen Gedanken darauf verschwendete, wer Vater und Mutter begraben würde und wo sie begraben würden und wann. Die Frage, ob das Essen und Trinken bei Tag und das Zudecken bei Nacht im Bauernhaus so gut sein würden wie in der Zelle, verdrängte all diese Fragen.
    Das Ruckeln des Karrens auf einer mit losen Steinen befestigten Straße weckte mich auf, und ich stellte fest, dass wir einen steilen Hügel hinauffuhren, wo die Straße in eine zerfurchte Nebenstraße durch ein Feld überging. Und so kamen wir, vorüber an Überbleibseln einer alten Terrasse und einigen verfallenen Nebengebäuden, die einmal befestigt gewesen waren, unter den Überresten eines alten Eingangstores hindurch zum alten Bauernhaus neben der dicken Steinmauer des alten Burghofs von Hoghton Towers, das ich anschaute wie ein dummer Wilder: Ich sah darin nichts Besonderes; ich sah darin nichts Altehrwürdiges; ich nahm an, alle Bauernhäuser sähen so ähnlich aus; und ich schrieb den Verfall, den ich bemerkte, der einzigen mir bekannten mächtigen Ursache allen Ruins zu – der Armut; ich beäugte die Tauben bei ihrem Flug, das Vieh in den Ställen, die Enten auf dem Teich und die Hühner, die auf dem Hof pickten, mit der hungrigen Hoffnung, rechtviele von ihnen würden fürs Abendessen getötet werden, während ich mich dort aufhielt; ich fragte mich, ob die blank geputzten Gefäße aus der Molkerei, die in der Sonne trockneten, wohl vornehme Essnäpfe sein könnten, aus denen der Herr seine magenfüllenden Speisen zu sich nahm und die er, gemäß meiner Erfahrung in der Zelle, polierte, wenn er damit fertig war; während mir angstvolle Zweifel kamen, ob die Schatten, die an dem strahlenden Frühlingstag ab und zu über die luftige Höhe strichen, nicht eine Art Stirnrunzeln wären – schmutzig, furchtsam und keineswegs zu bewundern wie ich war, ein kleines Scheusal, das einen schaudern machte.
    Zu dieser Zeit hatte ich auch nicht die entfernteste Vorstellung von Pflicht. Ich hatte keine Ahnung, dass es in diesem Leben irgendetwas Schönes und Angenehmes geben könnte. Wenn ich mich gelegentlich die Kellertreppe hinauf und auf die Straße geschlichen und in die Schaufenster geschaut hatte, hatte ich dies mit keinem hehreren Gefühl getan, als man es in der Brust eines räudigen Welpen oder Wolfsjungen vermuten kann. Außerdem war ich nie allein gewesen, in dem Sinne, dass ich müßig angenehmen Gedanken nachgehangen hätte. Allein und verlassen, das war ich oft genug gewesen, aber sonst nichts.
    Das war mein Gemütszustand, als ich mich an jenem Tag in der Küche des alten Bauernhauses zum Essen an den Tisch setzte. Das war mein Gemütszustand, als ich mich an jenem Abend in dem alten Bauernhaus zu Bett legte, als ich mich gegenüber dem schmalen Fenster mit seinen Steinpfosten im kalten Mondlicht ausstreckte wie ein junger Vampir.
    Kapitel 5
    Was weiß ich über Hoghton Towers? Ziemlich wenig, denn ich war voller Dankbarkeit und nicht bereit, meinen ersten Eindruck zu zerstören. Ein jahrhundertealtes Haus auf einer Anhöhe, etwa eine Meile von der Straße zwischen Preston und Blackburn entfernt, wo Jakob I. von England in seiner Hast, Geld zu verdienen, indem er Baronets einsetzte, vielleicht einige dieser einträglichen Würdenträger ernannt hat. Ein jahrhundertealtes Haus, verlassen und zerfallen, die Wälder und Gärten längst zu Weiden oder gepflügten Feldern geworden, an dem die Flüsse Ribble und Darwen unten vorbeifließen, und ein undeutlicher Rauchschleier, gegen den nicht einmal die

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