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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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bis in die Knochen drang, als hätte ich bereits die natürliche Welt verlassen.
    Ehe er sich überhaupt regte, war ich schon so nah zu ihm herangekommen, dass ich ihn hätte berühren können. Selbst da wandte er seine Augen nicht von den meinen ab, trat einen Schritt zurück und hob die Hand.
    Dies sei ein wirklich einsamer Posten, den er innehätte (sagte ich), und er hätte meine Aufmerksamkeit erregt, als ich von oben auf ihn herabblickte. Besucher wären hier wohl eine Seltenheit, nähme ich an; aber doch wohl, hoffte ich, keine unwillkommene Seltenheit? In mir sähe er nichts als einen Mann, der sein ganzes Leben lang in enger Beschränkung eingeschlossen gewesen war und nun, da er endlich befreit sei, ein neu erwachtes Interesse an diesengroßartigen Werken hegte. Solcher Art sprach ich mit ihm; aber ich bin mir keinesfalls sicher, welche Worte ich genau wählte; denn abgesehen davon, dass ich ohnehin nur sehr ungern Gespräche anfange, hatte der Mann etwas, das mich einschüchterte.
    Er richtete einen überaus seltsamen Blick auf das rote Licht in der Nähe des Tunneleingangs und schaute es gründlich von allen Seiten an, als fehlte etwas, und blickte dann zu mir hin.
    Das Licht unterstand auch seiner Obhut? Oder nicht?
    Er antwortete mit leiser Stimme: »Wissen Sie nicht, dass dem so ist?«
    Mir kam der grausige Gedanke, während ich auf seine starren Augen und das finstere Gesicht blickte, dass er vielleicht ein Gespenst sei und kein Mensch. Seither grüble ich darüber nach, ob sein Gehirn vielleicht gestört gewesen sein mag.
    Nun trat ich meinerseits einen Schritt zurück. Aber bei dieser Bewegung bemerkte ich in seinen Augen eine kaum verhohlene Furcht vor mir. Das verjagte den grausigen Gedanken sofort.
    »Sie schauen mich an«, sagte ich mit gezwungenem Lächeln, »als hätten Sie Angst vor mir.«
    »Ich hatte Zweifel«, erwiderte er, »ob ich Sie schon einmal gesehen habe.«
    »Wo?«
    Er deutete auf das rote Licht, das er angeschaut hatte.
    »Dort?«, fragte ich.
    Mich noch immer voller Wachsamkeit beobachtend, antwortete er (beinahe tonlos): »Ja.«
    »Mein guter Mann, was sollte ich denn dort tun? Wie dem auch sei, ich war nicht dort, darauf können Sie Gift nehmen.«
    »Ich denke, das kann ich«, gab er zurück. »Ja, ich bin mir sicher, das kann ich.«
    Sein Verhalten entspannte sich, genau wie auch das meine. Er beantwortete all meine Bemerkungen bereitwillig und in wohlgesetzten Worten. Hatte er hier viel zu tun? Ja, das heißt, er hatte genug Verantwortung zu tragen; aber hier wurde von ihm Genauigkeit und Wachsamkeit verlangt, und eigentliche Arbeit – körperliche Betätigung – gab es kaum. Das Signal umzustellen, hier eine Lampe zu putzen, dort eine Eisenkurbel zu drehen, das war alles, was er in dieser Hinsicht zu tun hatte. Und was die vielen langen und einsamen Stunden betraf, von denen ich so viel Aufhebens zu machen schien, da konnte er nur sagen, dass die Routine seines Lebens nun einmal diese Form angenommen und dass er sich inzwischen daran gewöhnt hatte. Er hatte hier unten eine Fremdsprache gelernt – wenn man denn von Sprachenlernen sprechen konnte, da er sie nur lesen konnte und sich lediglich grobe Vorstellungen von ihrer Aussprache gemacht hatte. Er hatte sich auch mit Brüchen und Dezimalzahlen beschäftigt und es mit ein wenig Algebra versucht; aber er war, wie schon als kleiner Junge, immer noch nicht sonderlich gut im Umgang mit Zahlen. War es denn nötig, dass er sich im Dienst ständig in diesem engen Kanal voller feuchter Luft aufhielt, und durfte er nie zwischen diesen hohen Felswänden heraus in den Sonnenschein hinaufsteigen? Nun, das hing ganz von den Zeiten und den Umständen ab. Unter gewissen Bedingungen war weniger Betrieb auf der Strecke als unter anderen, und das Gleiche galt auch für gewisse Stunden des Tages und der Nacht. Bei schönem Wetter nutzte er diese Gelegenheiten, um sich ein wenig aus diesen tiefen Schatten zu erheben; aber da er ja jederzeit von seiner elektrischen Glocke herbeigerufen werden konnte und in solchen Augenblickendann mit doppelter Ängstlichkeit auf sie lauschte, war die Erleichterung nicht so ausgeprägt, wie ich vermuten würde.
    Er nahm mich in seine Signalbude mit, wo es ein Kaminfeuer gab sowie einen Schreibtisch für ein offizielles Buch, in das er verschiedene Eintragungen machen musste, ein telegrafisches Instrument mit Wählscheibe, Zifferblatt und Zeigern und der kleinen Glocke, von der er eben gesprochen hatte.

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