Der schwarze Schleier
hatte.
Aber er wollte doch anmerken dürfen, dass er mit seiner Erzählung noch nicht zu Ende war.
Ich bat ihn um Verzeihung, und er fügte langsam, während er meinen Arm berührte, diese Worte hinzu: »Nicht sechs Stunden nach der Erscheinung geschah jenes unvergessliche Unglück auf der Strecke, und kaum zehn Stunden später wurden die Toten und Verwundeten durch den Tunnel an der Stelle vorbeigebracht, wo die Gestalt gestanden hatte.«
Ein unangenehmer Schauder kroch mir den Rücken herunter, aber ich kämpfte dagegen an, so gut ich konnte. Es ließe sich nicht leugnen, erwiderte ich, dass dies ein bemerkenswertes Zusammentreffen von Umständen war, das sich sicherlich tief in seine Gedanken eingraben musste. Aber es sei doch unbezweifelbar, dass ständig bemerkenswerte Zufälle geschahen, und die musste man in Betrachtziehen, wenn man sich mit einem solchen Thema beschäftigte.
Wenn ich auch sicherlich zugeben müsse, fügte ich hinzu (denn ich meinte zu sehen, dass er zum Widerspruch ansetzte), dass vernünftig denkende Menschen bei der alltäglichen Planung des Lebens dem Zufall nicht viel Bedeutung beimaßen.
Wiederum bat er, anmerken zu dürfen, dass er noch nicht zum Ende gekommen war.
Und ich bat ihn erneut um Verzeihung, dass ich mich zu einer Unterbrechung hatte hinreißen lassen.
»Das«, sagte er, während er mir wiederum die Hand auf den Arm legte und mit leeren Augen über die Schulter schaute, »geschah vor nur einem Jahr. Sechs oder sieben Monate verstrichen, und ich hatte mich von der Überraschung und dem Schock erholt, als ich eines Morgens bei Anbruch des Tages hier bei der Tür stand und auf das rote Licht schaute und das Gespenst erneut sah.« Er hielt inne und starrte mich an.
»Hat es etwas gerufen?«
»Nein. Es war stumm.«
»Hat es den Arm geschwenkt?«
»Nein. Es lehnte am Pfahl des Signals und hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen. So etwa.«
Wieder folgte ich seinen Bewegungen mit den Augen. Es war eine Geste tiefer Trauer. Ich habe derlei Haltung bei Steinfiguren auf Grabmälern gesehen.
»Sind Sie zu ihm hingegangen?«
»Ich bin hereingegangen und habe mich hingesetzt, teils um meine Gedanken zu sammeln, teils weil ich einer Ohnmacht nahe war. Als ich wieder zur Tür ging, war der helle Tag angebrochen, und das Gespenst war verschwunden.«
»Aber es folgte nichts nach? Es geschah nichts weiter?«
Er berührte meinen Arm zwei- oder dreimal mit dem Zeigefinger und nickte dabei jedes Mal gespenstisch.
»An eben diesem Tag bemerkte ich, als ein Zug aus dem Tunnel kam, an einem Waggonfenster auf meiner Seite etwas, das wie ein wirres Knäuel aus Händen und Köpfen aussah, und irgendetwas winkte mir. Ich sah es gerade noch rechtzeitig, um dem Lokomotivführer das Zeichen zum Halten zu geben. Er sperrte den Dampf ab und zog die Bremsen an, aber der Zug kam erst an die einhundertfünfzig Meter oder mehr von hier zum Stehen. Ich rannte dem Zug hinterher, und während ich näher kam, hörte ich schreckliche Schreie. Eine wunderschöne junge Dame war gerade eben in einem der Abteile gestorben und wurde hier hereingebracht und auf den Boden zwischen uns gelegt.«
Unwillkürlich schob ich meinen Stuhl ein wenig zurück, als ich meinen Blick von den Dielen, auf die er gedeutet hatte, zu ihm wandte.
»Es ist wahr, Sir. Wahr. Genau wie es geschehen ist, so erzähle ich es Ihnen.«
Mir fiel nichts ein, was ich dazu sagen könnte, und mein Mund war sehr trocken. Der Wind und die Telegraphendrähte nahmen die Geschichte in einem langen, trauernden Wehklagen auf.
Er fuhr fort. »Nun, Sir, hören Sie sich dies an und urteilen dann, wie beunruhigt mein Geist ist. Das Gespenst kam vor einer Woche wieder. Seither ist es ab und an sporadisch hier erschienen.«
»Am Signal?«
»Am Notsignal.«
»Was scheint es da zu tun?«
Er wiederholte, womöglich mit noch größerer Leidenschaft und Heftigkeit, das aufgeregte Gestikulieren imSinne von »um Gottes willen, aus dem Weg!«, das er mir schon vorher gezeigt hatte.
Dann fuhr er fort: »Ich finde keinen Frieden und keine Ruhe mehr davor. Es ruft mich, viele Minuten nacheinander und mit gequältem Ton: ›Da unten! Achtung! Achtung!‹ Es steht da und winkt mir zu. Es läutet meine kleine Glocke …«
Hier hakte ich ein. »Hat es gestern Abend Ihre Glocke geläutet, als ich hier war und Sie zur Tür gingen?«
»Zweimal.«
»Nun, ich verstehe«, sagte ich, »wie Ihre Phantasie Sie foppt. Meine Augen waren auf die Glocke gerichtet,
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