Der schwarze Schleier
Nachdem ich in der Annahme, dass er mir die Anmerkung verzeihen würde, gesagt hatte, dass er offensichtlich eine gute Bildung genossen hatte und vielleicht (ich hoffte, das sagen zu dürfen, ohne ihn zu beleidigen) gar für diesen Posten zu gebildet war, bemerkte er, dass es in großen Menschengruppen selten an Beispielen für ein derartiges leichtes Missverhältnis fehlte; dass er gehört hatte, dass derlei in Fabriken, bei der Polizei und sogar in jener letzten Zuflucht der Verzweifelten, der Armee, vorkam, und dass er wusste, dass dem gewiss mehr oder weniger unter den Mitarbeitern jeder großen Eisenbahngesellschaft so sei. Er hatte, als er jung war (wenn ich das glauben konnte, da er jetzt in dieser Bude saß – ihm fiel es schwer), Physik studiert und Vorlesungen gehört; aber er hatte ein liederliches Leben geführt, seine Chancen schlecht genutzt, war vom rechten Weg abgekommen und gestrauchelt und hatte sich nie wieder aufgerafft. Darüber beschwerte er sich nicht. Er hatte sich die Suppe eingebrockt, und nun musste er sie auslöffeln. Es war viel zu spät, noch etwas zu ändern.
Alles, was ich hier knapp zusammengefasst habe, sagte er in sehr ruhiger Manier und wandte dabei seinen schwermütigen, dunklen Blick mal mir, mal dem Kaminfeuer zu. Er streute ab und zu das Wort »Sir« ein, insbesondere, als er sich auf seine Jugendzeit besann – als versuchte er mir zu verstehen zu geben, dass er nichts zu sein vorgeben wollteals das, was ich hier vor mir sah. Mehrere Male wurde er von der kleinen Glocke unterbrochen, musste Botschaften ablesen und Antworten schicken.
Einmal musste er vor der Tür stehen und eine Fahne schwenken, als ein Zug vorüberfuhr, und dem Lokomotivführer irgendeine mündliche Mitteilung machen. Ich beobachtete, dass er in der Erledigung seiner Pflichten bemerkenswert exakt und pflichtbewusst war, seinen Redefluss mitten im Wort unterbrach und schwieg, bis das, was er zu tun hatte, getan war.
Mit einem Wort: Ich hätte diesen Mann als den allerbesten und zuverlässigsten Mann bezeichnet, den man in dieser Funktion nur einstellen konnte, wäre nicht der Umstand gewesen, dass er sich, während er mit mir redete, zweimal mit bleicher Miene unterbrach, sein Gesicht der kleinen Glocke zuwandte, die
nicht
geläutet hatte, die Tür der Hütte öffnete (die sonst geschlossen war, um die ungesunde Feuchtigkeit auszusperren) und auf das rote Licht in der Nähe des Tunneleingangs starrte. Beide Male kehrte er mit der unergründlichen Miene zum Kamin zurück, die ich bemerkt, aber nicht zu deuten gewusst hatte, als wir noch so weit voneinander entfernt waren.
Als ich aufstand, um ihn zu verlassen, sagte ich: »Sie könnten mich beinahe glauben machen, dass ich in Ihnen einen zufriedenen Menschen kennengelernt habe.«
(Leider muss ich zugeben, dass ich dies nur sagte, um ihn aufs Glatteis zu führen.)
»Ich denke, das war ich auch«, erwiderte er mit der leisen Stimme, in der er seine ersten Worte an mich gerichtet hatte, »aber nun bin ich beunruhigt, Sir, ich bin beunruhigt.«
Wenn er gekonnt hätte, er hätte diese Worte zurückgenommen. Nun hatte er sie aber einmal ausgesprochen, und ich ging rasch darauf ein.
»Worüber? Was macht Ihnen Sorgen?«
»Es ist sehr schwer zu erklären, Sir. Es fällt mir sehr, sehr schwer, darüber zu sprechen. Sollten Sie irgendwann noch einmal hier zu Besuch kommen, will ich versuchen, es Ihnen zu erzählen.«
»Aber ich habe bestimmt vor, Ihnen einen weiteren Besuch abzustatten. Sagen Sie mir, wann soll ich hier sein?«
»Ich beende morgen in der Frühe meinen Dienst und komme um zehn Uhr nachts wieder her, Sir.«
»Ich komme um elf.«
Er dankte mir und ging mit mir zusammen zur Tür hinaus. »Ich zeige meine weiße Laterne, Sir«, sagte er dann mit seiner seltsam leisen Stimme, »bis Sie den Weg nach oben gefunden haben. Wenn Sie ihn gefunden haben, rufen Sie nicht! Und wenn Sie oben angelangt sind, rufen Sie nicht!«
Sein Gebaren ließ mir den Ort gleich kälter erscheinen, aber ich erwiderte nichts als: »Nun gut.«
»Und wenn Sie morgen Nacht herunterkommen, rufen Sie nicht! Lassen Sie mich Ihnen zum Abschied eine Frage stellen. Was hat Sie veranlasst, heute Abend ›Hallo! Hallo, da unten!‹ zu rufen?«
»Weiß der Himmel«, antwortete ich. »Ich habe so etwas in der Art gerufen …«
»Nicht so etwas in der Art, Sir. Das waren die genauen Worte. Die sind mir vertraut.«
»Zugegeben, das waren die Worte. Ich habe sie zweifellos gesagt,
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