Der schwarze Schleier
weil ich Sie dort unten gesehen habe.«
»Aus keinem anderen Grund?«
»Welchen anderen Grund könnte ich dafür denn gehabt haben?«
»Sie hatten nicht das Gefühl, dass sie Ihnen von einer übernatürlichen Stimme eingeflüstert wurden?«
»Nein.«
Er wünschte mir eine gute Nacht und hielt seine Laterne in die Höhe. Ich ging neben den Schienen her (mit dem sehr unguten Gefühl, dass hinter mir vielleicht ein Zug heranfuhr), bis ich den Pfad gefunden hatte. Der Aufstieg war leichter als der Abstieg, und ich gelangte ohne Zwischenfall zu meinem Gasthaus zurück.
Pünktlich für meine Verabredung setzte ich in der folgenden Nacht den Fuß auf den ersten Abschnitt des Zickzackpfades, als die Uhren in der Ferne gerade elf schlugen.
Er wartete mit seiner weißen Laterne unten auf mich. »Ich habe nicht gerufen«, sagte ich, als wir einander näher kamen, »darf ich jetzt sprechen?«
»Gewiss, Sir.«
»Dann wünsche ich einen guten Abend, und hier ist meine Hand.«
»Guten Abend, Sir, und hier ist meine.«
Mit diesen Worten gingen wir Seite an Seite zu seiner Signalbude, traten ein, schlossen die Tür und setzten uns ans Kaminfeuer.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, Sir«, hub er an, beugte sich zu mir herüber, sobald wir saßen, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, »dass Sie mich nicht zweimal fragen sollen, was mich beunruhigt. Ich habe Sie gestern Abend für einen anderen gehalten. Das beunruhigt mich.«
»Dieser Irrtum?«
»Nein. Dieser andere.«
»Wer ist es?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er ähnelt mir?
»Ich weiß es nicht. Ich habe sein Gesicht nie gesehen. Den linken Arm hält er vor das Gesicht, und der rechte winkt – sehr heftig. So etwa.«
Ich verfolgte seine Bewegung mit den Augen; es war ein aufgeregtes Gestikulieren eines Arms, mit äußerster Leidenschaft und Heftigkeit: Um Gottes willen, aus dem Weg!
»In einer mondhellen Nacht«, sagte der Mann, »saß ich einmal hier, als ich eine Stimme rufen hörte: ›Hallo! Hallo, da unten!‹ Ich schreckte auf, schaute aus jener Tür und sah diesen Jemand bei dem roten Licht in der Nähe des Tunnels stehen und winken, so wie ich es Ihnen gerade gezeigt habe. Die Stimme schien vom Rufen heiser und schrie: ›Achtung! Achtung!‹ Und dann wieder ›Hallo! Hallo, da unten!‹ Ich nahm meine Laterne, drehte sie auf Rot und rannte auf die Gestalt zu, während ich rief: ›Was ist los? Was ist geschehen? Wo?‹ Die Gestalt stand unmittelbar vor der Schwärze des Tunnels. Ich ging so nah heran, dass ich mich fragte, warum sie den Ärmel vor die Augen hielt. Ich rannte hin und hatte schon die Hand ausgestreckt, um den Ärmel wegzuziehen, als sie verschwunden war.«
»In den Tunnel?«, fragte ich.
»Nein. Ich lief in den Tunnel hinein, wohl fünfhundert Meter. Ich blieb stehen, hielt die Laterne über den Kopf und sah die Zahlenmarkierungen, die die genaue Entfernung anzeigen, und ich sah die Nässe, die sich in Flecken über die Wand ausbreitete und durch das Tunnelgewölbe sickerte. Ich rannte wieder heraus, schneller als ich hineingerannt war (denn der Ort erfüllte mich mit tödlichem Schrecken), und ich suchte rings um das rote Signallicht mit meiner roten Laterne, und ich stieg die eiserne Leiter zur Brüstung oben am Signal hinauf, und ich kam wieder herunter und lief hierher zurück. Ich telegraphierte in beide Richtungen. ›Es wurde Alarm ausgelöst. Stimmt etwas nicht?‹ Die Antwort kam aus beiden Richtungen: ›Alles in Ordnung.‹«
Ich widerstand dem eisigen Finger, der mir über dasRückgrat zu streichen schien, und erklärte ihm, dass diese Gestalt eine Täuschung seiner Sinne gewesen sein musste; dass Gestalten, die ihren Ursprung in einer Erkrankung jener zarten Nerven haben, die für die Funktion des Auges verantwortlich sind, meines Wissens schon häufig Patienten heimgesucht hätten, von denen einige sich der Natur ihres Leidens bewusst geworden seien und es sogar durch Experimente an sich selbst bewiesen hätten. »Und was einen eingebildeten Schrei angeht«, fuhr ich fort, »so lauschen Sie doch nur einen Augenblick dem Wind in dieser unnatürlichen Schlucht, während wir hier so leise sprechen, und lauschen Sie der wilden Harfe, in die er die Telegraphendrähte verwandelt hat.«
Das wäre alles schön und gut, versetzte er, nachdem wir eine Weile still gelauscht hatten, und er müsste ja wahrhaftig einiges über den Wind und die Drähte wissen – er, der so oft lange Winternächte hier allein Wache gehalten
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