Der schwarze Schleier
wieder zu seiner eigenen Geschichte zurückbrachte. Dann erinnerte er sich an die letzten Worte seines Retters und dachte: »Es tröstet sie.«
Eines Tages erwachte er erfrischt aus dem Schlaf und bat sie, ihm vorzulesen. Aber der Vorhang seines Bettes, derdas Licht milderte und den sie immer aufzog, sobald er erwachte, damit sie ihn von ihrem Tisch neben seinem Bett sehen konnte, an dem sie saß und arbeitete, blieb geschlossen, und eine Frauenstimme sprach, die nicht die ihre war.
»Kannst du es ertragen, eine Fremde zu sehen?«, fragte sie leise. »Möchtest du eine Fremde sehen?«
»Eine Fremde!«, wiederholte er. Die Stimme weckte alte Erinnerungen in ihm, an die Zeiten vor dem Gemeinen Richard Doubledick.
»Jetzt eine Fremde, aber früher einmal keine Fremde«, sagte die Stimme, deren Tonfall ihn erregte. »Richard, mein lieber Richard, so viele Jahre verloren, mein Name ist …«
Er rief ihren Namen aus: »Mary«, und sie hielt ihn in den Armen, und sein Kopf lag an ihrem Busen.
»Ich breche mein übereiltes Gelübde nicht, Richard. Es spricht dies nicht Mary Marshalls Mund. Ich habe einen anderen Namen.«
Sie war verheiratet.
»Ich habe einen anderen Namen, Richard. Hast du ihn je gehört?«
»Niemals!«
Er schaute ihr ins Gesicht, das so nachdenklich und schön war, und war verwundert über das Lächeln unter Tränen.
»Denk noch einmal nach, Richard. Bist du sicher, dass du meinen neuen Namen nie gehört hast?«
»Niemals!«
»Wende den Kopf nicht zu mir her, lieber Richard. Lass ihn da liegen, während ich dir meine Geschichte erzähle. Ich liebte einen großzügigen, edlen Mann, liebte ihn von ganzem Herzen, liebte ihn Jahr um Jahr, liebte ihn treu und ergeben, liebte ihn ohne Hoffnung auf Wiederkehr, liebte ihn, wusste aber nichts von seinen besten Eigenschaften –wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Er war ein tapferer Soldat. Er wurde von Tausenden und Abertausenden geliebt und verehrt, als die Mutter seines lieben Freundes mich fand und mir zeigte, dass er mich in all seinen Triumphen niemals vergessen hatte. Er wurde in einer großen Schlacht verwundet. Er wurde, dem Tode nah, hierher nach Brüssel gebracht. Ich kam her, um über ihn zu wachen und ihn zu pflegen, und ich wäre zu diesem Zwecke mit Freuden bis an die finstersten Enden der Erde gegangen. Als er niemanden sonst erkannte, erkannte er doch mich. Als er am meisten litt, ertrug er seine Leiden, kaum murrend, zufrieden, den Kopf da auszuruhen, wo jetzt dein Kopf ruht. Als er dem Tode nah war, hat er mich geheiratet, damit er mich noch seine Ehefrau nennen konnte, ehe er starb. Und der Name, mein Liebster, den ich in jener vergessenen Nacht annahm …«
»Jetzt weiß ich es!«, schluchzte er. »Die schattenhafte Erinnerung wird stärker. Sie kommt zurück. Ich danke dem Himmel, dass meine Gedanken wieder hergestellt sind! Meine liebe Mary, küsse mich; wiege dieses müde Haupt in den Schlaf, sonst vergehe ich vor Dankbarkeit. Seine letzten Worte sind wahr geworden. Ich sehe meine Heimat wieder!«
Nun! Sie waren glücklich. Es war eine lange Zeit der Genesung, aber sie waren immer glücklich. Der Schnee war geschmolzen und die Vögel sangen in den blätterlosen Hecken des ersten Frühjahrs, als diese drei zum ersten Mal miteinander ausfahren konnten und die Leute sich um die offene Kutsche versammelten, um Hauptmann Richard Doubledick zuzujubeln und zu gratulieren.
Doch selbst dann war es notwendig, dass der Hauptmann, anstatt nach England zurückzukehren, seine Erholung im Klima Südfrankreichs vollendete. Sie fanden einenOrt an der Rhône, einen kurzen Ritt von der alten Stadt Avignon entfernt und noch in Sichtweite ihrer zerstörten Brücke, der alles bot, was sie sich nur wünschen konnten; sie lebten dort zusammen sechs Monate; dann kehrten sie nach England zurück. Mrs. Taunton, die nach weiteren drei Jahren ihr Alter zu spüren begann – wenn auch nicht so sehr, dass ihre strahlenden dunklen Augen matt wurden – und sich daran erinnerte, dass der Klimawechsel ihren Kräften sehr gut bekommen war, entschloss sich, für ein Jahr in diese Gegend zurückzukehren. So fuhr sie denn mit einem getreuen Diener, der oft ihren Sohn in den Armen getragen hatte; und gegen Ende des Jahres sollte Hauptmann Richard Doubledick dort zu ihr stoßen und sie nach Hause zurückbegleiten.
Sie schrieb regelmäßig an ihre Kinder (wie sie sie nun nannte), und sie schrieben ihr. Sie begab sich in die Gegend von Aix, und dort wurde sie auf
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