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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Feind, wie viel mehr als meinen Freund! Ich bin auch Soldat.«
    Er erinnert sich nicht an mich, so wie ich mich an ihn erinnere, er hat sich mein Gesicht nicht so eingeprägt an jenem Tag, wie ich mir seines eingeprägt habe, dachte Hauptmann Richard Doubledick. Wie soll ich es ihm sagen?
    Der französische Offizier geleitete seinen Gast in den Garten und stellte ihn seiner Gattin, einer reizenden und wunderschönen Frau, vor, die mit Mrs. Taunton in einem absonderlichen, altmodischen Pavillon saß. Seine Tochter, deren hübsches junges Gesicht vor Freude strahlte, kam gerannt und umarmte ihn; und ein kleiner Junge purzelte zwischen den Orangenbäumen die breite Treppe herunter und robbte auf die Beine seines Vaters zu. Eine Schar von Kindern, die zu Besuch waren, tanzte zu fröhlicher Musik, und alle Bediensteten und Bauern aus der Umgebung des Schlosses taten es ihnen gleich. Es war ein Anblick unschuldigen Glücks, den man für den Gipfel all der friedlichen Szenen hätte halten können, die den Hauptmann auf seiner Reise so milde gestimmt hatten.
    Er schaute all dies mit überaus bestürztem Herzen an, bis eine laute Glocke ertönte und der französische Offizier ihn bat, ihn in seine Zimmer führen zu dürfen. Sie stiegen zur Galerie hinauf, von wo der Offizier heruntergeschaut hatte; und Monsieur le Capitaine Richard Doubledick wurde herzlich willkommen geheißen in einem großen äußeren Gemach und einem kleineren weiter innen, mit Uhren und Stoffbehängen und Kaminen und Bronzehunden und Kacheln und Kühlvorrichtungen und Eleganz und Weitläufigkeit.
    »Sie waren in Waterloo«, sagte der französische Offizier.
    »Ja, das war ich«, sagte Hauptmann Richard Doubledick. »Und in Badajoz.«
    Als er allein war und noch immer den Klang seiner eigenen strengen Stimme in den Ohren hatte, setzte er sich hin und überlegte: Was soll ich machen, und wie soll ich es ihm sagen? Zu jener Zeit waren leider schon viele bedauerliche Duelle zwischen englischen und französischen Offizieren ausgetragen worden, die sich aus dem letzten Krieg ergeben hatten; und diese Duelle und wie er der Gastfreundschaft dieses Offiziers entgehen könnte – dem waren die vordringlichsten Gedanken des Hauptmanns Richard Doubledick gewidmet.
    Er überlegte, und darüber verging die Zeit, in der er sich zum Abendessen hätte umkleiden sollen, als Mrs. Taunton durch die Tür zu ihm sprach und ihn fragte, ob er ihr den Brief geben könnte, den er ihr von Mary mitgebracht hatte. Vor allem seiner Mutter, überlegte der Hauptmann, wie soll ich es ihr erzählen?
    »Ich hoffe, du schließt mit unserem Gastgeber Freundschaft«, sagte Mrs. Taunton, die er rasch einließ, »die ein Leben lang anhalten wird. Er hat ein so gutes Herz und ist so großzügig, Richard, dass ihr einander einfach hoch schätzen müsst. Wenn er verschont geblieben wäre«, sagte sie und küsste (nicht ohne Tränen) das Medaillon, in dem sie sein Haar trug, »dann hätte er ihn mit der ihm eigenen Großherzigkeit zu schätzen gewusst und wäre wahrhaft froh gewesen, dass die bösen Zeiten vorbei sind, die einen solchen Mann zu seinem Feind gemacht haben.«
    Sie verließ das Zimmer; der Hauptmann ging zuerst zum einen Fenster, von wo er das Tanzen im Garten sehen konnte, dann zu einem anderen, von wo er auf die liebliche Aussicht und die friedlichen Weinberge blicken konnte.
    »Geist meines verstorbenen Freundes«, sagte er, »ist es um deinetwillen, dass mir diese besseren Gedanken in den Kopf kommen? Bist du es, der mir auf dem ganzen Weg zum Treffen mit diesem Mann gezeigt hat, welch ein Segen die geänderten Zeiten sind? Bist du es, der mir deine tief getroffene Mutter geschickt hat, die mir in die wütende Hand fiel? Kommt von dir das Flüstern, dass dieser Mann nur seine Pflicht getan hat, wie du die deine – und ich die meine, durch deine Anleitung, die mich hier auf Erden gerettet hat – und dass er nicht mehr als seine Pflicht getan hat?«
    Er setzte sich, den Kopf in den Händen vergraben, und als er sich wieder erhob, fasste er den zweiten entscheidenden Entschluss seines Lebens – weder dem französischen Offizier noch der Mutter seines verstorbenen Freundes, noch einer anderen Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen von dem zu sagen, was er wusste. Und als er an jenem Abend beim Essen mit seinem Glas mit dem französischen Offizier anstieß, vergab er ihm insgeheim im Namen des Göttlichen Verzeihers aller Missetaten.
    Hier beendete ich meine Geschichte als

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