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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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bis die Schlacht von Toulouse gefochten wurde. In den Rapports, die nach Hause geschickt wurden, tauchten die folgenden Worte auf: »Schwer, aber nicht lebensgefährlich verwundet, Leutnant Richard Doubledick.«
    Im Mittsommer des Jahres 1814 kam Leutnant Richard Doubledick, nun ein wettergebräunter Soldat von siebenunddreißig Jahren, als Verletzter nach England zurück. Er führte das Päckchen mit den Haaren bei sich, trug es nah am Herzen. Manch einen französischen Offizier hatte er seit jenem Tag gesehen. In manch einer schrecklichen Nacht hatte er, als er mit seinen Männern und Laternen nach Verwundetensuchte, französische Offiziere von ihren Leiden erlöst, aber das Bild vor seinem geistigen Auge und die Wirklichkeit waren nie zusammengekommen.
    Obwohl er sich schwach fühlte und Schmerzen litt, verlor er keine Zeit, um sich nach Frome in Somersetshire zu begeben, wo Tauntons Mutter lebte. »Er war der einzige Sohn seiner Mutter, und sie war eine Witwe« 7 , wie es freundliche Worte ausdrücken, die einem ganz von selbst in den Sinn kommen.
    Es war ein Sonntagabend, und die Dame saß an ihrem ruhigen Gartenfenster und las in der Bibel; sie las sich selbst mit bebender Stimme gerade genau die folgende Stelle vor, wie ich es ihn habe erzählen hören. Er hörte die Worte: »Jüngling, ich sage dir, steh auf!« 8
    Er musste an dem Fenster vorübergehen, und die strahlenden dunklen Augen seiner schlimmsten Zeiten schienen ihn anzublicken. Ihr Herz sagte ihr, wer er war; sie kam rasch zur Tür und fiel ihm um den Hals.
    »Er hat mich vor dem Untergang gerettet, wieder einen Menschen aus mir gemacht, mich aus Schmach und Schande zurückgeholt. Oh, Gott möge ihn ewig dafür segnen! Das wird Er! Das wird Er!«
    »Ja, das wird Er«, antwortete die Dame. »Ich weiß, dass er im Himmel ist.« Dann weinte sie erbärmlich. »Aber oh, mein liebster Junge, mein liebster Junge!«
    Seit jener Stunde, als der Gemeine Richard Doubledick sich in Chatham hatte anwerben lassen, hatte der Gemeine, der Korporal, der Sergeant, der Erste Unteroffizier, der Fähnrich oder Leutnant nie einem anderen Menschen als seinem Erretter seinen wahren Namen oder den von MaryMarshall genannt oder auch nur ein Wort über seine Lebensgeschichte verloren. Diese frühere Begebenheit in seinem Leben war abgeschlossen. Er hatte den festen Entschluss gefasst, seine Sühne sollte sein, dass er unerkannt lebte; er wollte den Frieden, der sich längst über seine alten Missetaten gelegt hatte, nicht mehr stören; mochte es entdeckt werden, wenn er tot war, dass er gerungen und gelitten und niemals vergessen hatte; und dann, wenn sie ihm vergeben und Glauben schenken konnten – nun, dann wäre es noch rechtzeitig genug, rechtzeitig genug!
    Aber in jener Nacht, als er sich an die Worte erinnerte, die er zwei Jahre lang im Herzen bewahrt hatte, »Sagen Sie ihr, wie wir Freunde geworden sind. Es wird sie trösten, wie es mich tröstet«, da erzählte er alles. Mit der Zeit kam es ihm so vor, als hätte er in reifen Jahren seine Mutter wiedergewonnen; es schien ihr allmählich, als hätte sie in ihrer Trauer einen Sohn gefunden. Während seines Aufenthaltes in England wurde der stille Garten, in den er sich als Fremder langsam und unter Schmerzen hineingeschleppt hatte, sein ganzes Zuhause; als er sich im Frühling wieder zu seinem Regiment gesellen konnte, verließ er den Garten und dachte, dies sei tatsächlich das erste Mal, dass er mit dem Segen einer Frau sein Gesicht wieder der alten Regimentsfahne zuwandte!
    Er folgte der Fahne – inzwischen so zerlumpt, vernarbt und durchstochen, dass sie kaum noch zusammenhalten wollte – nach Quatre-Bras und Ligny. Er stand neben ihr, in der ehrfurchtsvollen Stille vieler Männer, schattenhaft zu sehen durch den Dunst und den Nieselregen eines nassen Junivormittags auf dem Feld von Waterloo. Und bis zu dieser Stunde hatte er nie die Gelegenheit gehabt, das Bild des französischen Offiziers, das vor seinem geistigen Auge stand, mit der Wirklichkeit zu vergleichen.
    Das berühmte Regiment griff früh in dieser Schlacht in den Kampf ein und erlitt den ersten Rückschlag in seinen vielen ereignisreichen Jahren, als man sah, wie er zu Boden fiel. Aber es preschte weiter vor, um ihn zu rächen, und ließ Leutnant Richard Doubledick, kaum bei Bewusstsein, hinter sich zurück.
    Durch Schlammgruben und Regenpfützen, tiefe Gräben entlang, die einmal Straßen gewesen waren und nun zertreten und durchpflügt waren von

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