Der schwarze Schleier
einem Schloss in der Nähe des Bauernhauses, das sie angemietet hatte, mit einer Familie vertraut, die aus diesem Teil Frankreichs stammte. Die innige Vertrautheit begann damit, dass sie oft in den Weinbergen ein hübsches Kind traf, ein Mädchen mit einem außerordentlich mitleidigen Herzen, das es nie müde wurde, die Geschichten der einsamen englischen Dame von ihrem armen Sohn und den grausamen Kriegen anzuhören. Die anderen Familienmitglieder waren so liebenswürdig wie das Kind, und mit der Zeit lernte sie sie so gut kennen, dass sie die Einladung annahm, den letzten Monat ihres Auslandsaufenthaltes unter ihrem Dach zu verbringen. Alle diese Neuigkeiten schrieb sie nach Hause, nach und nach, wie sie sich von Zeit zu Zeit ergaben, und endlich fügte sie ein höfliches Schreiben des Schlossherren bei, in dem er anlässlich seines bevorstehenden Besuchs in der Nachbarschaft um die Ehre der Gesellschaft von
cet
homme si justement célèbre, Monsieur le Capitaine
Richard Doubledick 9 bat.
Hauptmann Doubledick, inzwischen ein kräftiger, gutaussehender Mann in den besten Jahren und ein wenig breiter in der Brust und in den Schultern als je zuvor, schickte eine höfliche Antwort und folgte ihr dann nach. Als er nach drei Jahren Frieden durch die weite Landschaft reiste, segnete er die besseren Zeiten, die nun für die Welt angebrochen waren. Das Getreide stand golden und war nicht mit unnatürlichem Rot getränkt; es war in Garben gebunden und würde gegessen und nicht von Männern in tödlichem Zweikampf zertrampelt werden. Der Rauch stieg von friedlichen Herdstätten auf, nicht von brennenden Ruinen. Die Karren waren mit den schönsten Früchten der Erde beladen und nicht mit Verwundeten und Toten. Für ihn, der so oft das schreckliche Gegenteil gesehen hatte, war dies alles wahrhaft herrlich; und so kam er an einem tiefblauen Abend in milder Stimmung in dem Schloss bei Aix an.
Es war ein Schloss von wahrhaft alter, gespenstischer Art mit runden Türmen und Wasserspeiern und einem hohen, mit Blei gedeckten Dach und mehr Fenstern als Aladins Palast. Die Fensterläden waren nach der Hitze des Tages alle geöffnet, und man konnte hier und da einen Blick auf die langen Wände und Flure im Inneren erhaschen. Dann gab es noch ungeheuer ausgedehnte Außengebäude, die teilweise verfallen waren, Unmengen von dunklen Bäumen, Terrassen mit Gärten und Balustraden, Wasserbecken, deren Strahlen zu schwach für Wasserspiele und zu verschmutzt waren, um zu funktionieren;Statuen, Unkraut und ein Dickicht von eisernen Geländern, die genau wie die Büsche gewuchert und in alle möglichen wilden Formen verwachsen schienen. Die Eingangstür stand offen, wie das auf dem Land oft so ist, wenn die Hitze des Tages vergangen ist; und der Hauptmann sah weder Glocke noch Türklopfer und trat ein.
Er kam in eine hohe steinerne Halle, die nach dem grellen Licht einer Tagesreise unter südlicher Sonne erfrischend kühl war. An allen vier Seiten verlief eine Galerie, die zu den Zimmerfluchten führte; und sie war von oben erhellt. Immer noch war keine Glocke zu sehen.
»Wahrhaftig«, sagte der Hauptmann zögernd, beschämt über den dröhnenden Klang seiner Stiefel, »das ist ein gespenstischer Anfang!«
Er fuhr zusammen und merkte, wie sein Gesicht erbleichte. Auf der Galerie, auf ihn herunterblickend, stand der französische Offizier – der Offizier, dessen Bild er nun so lange schon vor seinem geistigen Auge bewahrt hatte. Jetzt endlich konnte er dies Bild mit dem Original vergleichen – wie ähnlich war es doch in allen Zügen!
Der Offizier bewegte sich und verschwand, und Hauptmann Richard Doubledick hörte, wie seine Schritte rasch in die Halle herunterkamen. Er trat durch einen Torbogen. Und plötzlich strahlte ein heller Blick auf dem Antlitz, sehr ähnlich wie in jenem fatalen Moment.
Monsieur le Capitaine Richard Doubledick? Entzückt, ihn hier zu empfangen! Und tausend Entschuldigungen! Die Bediensteten waren alle draußen an der frischen Luft. Es fand ein kleines Fest im Garten statt. Tatsächlich war es der Festtag seiner kleinen Tochter, der kleinen, geliebten Schutzbefohlenen von Madame Taunton.
Er war so freundlich und aufrichtig, dass Monsieur le Captaine Richard Doubledick ihm seine Hand nicht vorenthaltenkonnte. »Es ist die Hand eines tapferen Engländers«, sagte der französische Offizier und hielt sie umfangen, während er sprach. »Ich konnte einen jeden tapferen Engländer respektieren, sogar als meinen
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