Der schwarze Thron - Reiter reiter3
Wenn sie das Leben mehr akzeptierte als das, was es war – so, wie sie jetzt auch akzeptierte, ein Grüner Reiter zu sein –, würde sie das erleichtern.
Jemandem davon zu erzählen erleichterte sie ebenfalls. Ihr war nicht klar gewesen, welches Gewicht sie mit sich herumgeschleppt hatte, nachdem sich alles in ihr aufgestaut hatte. Es Estral zu erzählen, befreite sie, wie es sie niemals befreit hätte, wenn sie es einem der Reiter anvertraut hätte. Die Reiter waren Diener des Königs, standen ihm zu nahe, und ihnen ihr Geheimnis zu enthüllen, wäre für Karigan zu demütigend gewesen.
»Nun, alte Mutter«, sagte Karigan ein wenig heiterer, »es ist ein bisschen kühl hier unten. Sollen wir nicht in die Stadt gehen, für ein wenig Tee und Kuchen?«
Estral lächelte bedächtig. »Meine innere Weisheit sagt mir, dass das eine sehr gute Idee ist.«
Und lachend ließen sie die Dunkelheit des Archivs hinter sich.
Bevor die beiden in die Stadt gingen, musste Estral noch mit einem der Hilfskuratoren über eine Angelegenheit ihres Vaters sprechen. Sie versprach, sich zu beeilen.
Karigan wartete im Flur vor dem Kuratorenbüro, wo sie nicht unbedingt auf und ab ging, aber sie verschränkte die
Hände auf dem Rücken und schritt den Flur entlang. Die Wände waren voller Porträts – die Bilder alter Rektoren und Lehrer, nahm sie an. Vielleicht auch Gönner oder Verwalter. Jedenfalls von Personen, die nicht wichtig genug waren, dass ihre Bilder in den bedeutenderen Fluren aufgehängt wurden.
Alle schauten streng und würdevoll aus ihren Rahmen, alle in ihre besten Sachen gekleidet, je nach der Epoche, inklusive gepuderter Perücken für mehr als nur ein paar. Für gewöhnlich hätte Karigan wenig auf diese Porträts geachtet, aber im Augenblick hatte sie nichts anders zu tun, also sah sie näher hin.
Einige Porträts waren in einem primitiveren Stil gehalten, als wären sie sehr alt. Die Proportionen stimmten nicht – manchmal war ein Kopf zu groß oder Arme waren zu dünn. Den Gemälden fehlte Tiefe, die Schattierungen waren eher schlecht und die Farben schwach, aber sie hatten auch etwas unerklärlich Anziehendes an sich. Viele dieser älteren Ölgemälde hatten zahlreiche Risse, was von ihrem hohen Alter sprach.
Andere wiederum waren meisterhaft gemalt, mit vielen Einzelheiten und großer Tiefe. Die Personen, die dort dargestellt waren, sahen aus, als könnten sie jederzeit ihre Rahmen verlassen. Karigan blieb stehen und schaute eine Matrone an, deren Kleidung und sonstige Ausstattung vollkommen realistisch ausgeführt waren. Es faszinierte Karigan, wie kunstvoll ihr Spitzenkragen wiedergegeben war, ebenso wie der goldene Anhänger, der echt genug aussah, als könnte man ihn berühren. Sie beugte sich näher heran, um zu erkennen, wie der Künstler diese Wirkung erreicht hatte.
Bibliotheeek … hauchte eine Stimme hinter ihr.
Sie zuckte zusammen. »Was?« Sie sah sich in alle Richtungen um, aber sie war allein im Flur. Bis auf die Porträts.
»Das hab ich mir wohl nur eingebildet«, murmelte sie.
Sie wandte sich wieder dem Porträt zu, das sie betrachtet hatte. Der Anhänger der Frau hatte die Form eines Löwenkopfs, und die Augen des Tiers bestanden aus Rubinen. Zarte Pinselstriche ließen ihn dreidimensional wirken und gaben den metallischen Schimmer des Golds wider.
Bibliotheeek …
Karigan fuhr herum. »Wer hat das gesagt?«
Eine Schreiberin erstarrte in einer Bürotür, die Augen weit aufgerissen. »R-Reiter?«
»Habt Ihr etwas gesagt?«, fragte Karigan herrisch.
»N-nein, Reiter.« Die Schreiberin zog ihre Tunika glatt. »Ich war gerade auf dem Weg, einen Auftrag für Meister Clark zu erledigen.«
Karigan kratzte sich am Kopf, und unbehagliches Schweigen senkte sich über den Flur. »Ich …«, begann sie erneut.
Ein kreischendes Kratzen unterbrach sie. Ein Gemälde an der gegenüberliegenden Wand war von einem Haken gerutscht, so dass es nun schief dahing.
Die Schreiberin seufzte und ging hinüber zu dem Bild. »Immer muss ich dieses Ding zurechtrücken«, sagte sie. »Der Rahmen ist schwer und sein Gewicht schlecht verteilt, glaube ich. Passt zu dem Porträtierten.«
Karigan ging zu ihr, um ihr zu helfen, das Bild gerade zu rücken. Wie alle anderen befand das Gemälde sich in einem massiven, kunstvollen Rahmen, in diesem Fall aus Mahagoni, mit eingeschnitztem Blatt- und Beerenmuster. In eine Ecke des Rahmens war eine Beerenblüte geschnitzt. Das Porträt stellte einen distinguierten
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