Der Schwefelfluss
Verbeugung.
»Wir sollten eine Nacht miteinander verbringen«, platzte Mormand heraus.
Julienne schwieg.
»Was ist? Gefällt dir mein Angebot nicht?« Lauernd sah er sie an.
»Ich weiß die Ehre zu schätzen, L'umeyn.« Ein verhaltenes Zittern schwang in ihrer Stimme mit. »Aber es ist...«
»Keine Widerrede«, bestimmte er. »Du wirst mich noch heute bei Sonnenuntergang besuchen.«
Eine Weile sah Julienne ihn schweigend an, während es um ihre Mundwinkel zu zucken begann, dann verbeugte sie sich tief.
»Du wirst deinen Lichtkönig nicht enttäuschen«, sagte der L'umeyn. »Ich fühle es, mein Kind.«
Mit einem raschen Griff nahm er ihr den noch halb vollen Becher aus der Hand und leerte ihn in einem Zug. Dann reichte er ihn ihr zurück. »Bringe mir mehr von diesem köstlichen Getränk. Es hilft mir zu vergessen.«
Der L'umeyn hielt sich für unwiderstehlich. Er war mittelgroß, maß fünfeinhalb Fuß und hatte es, war er in früheren Zeiten auch schlank gewesen, im Lauf seiner nunmehr dreißigjährigen Regentschaft über Ugalien zu einer nicht unbeträchtlichen Körperfülle gebracht. Sein feistes Gesicht zierte ein lächerlich kleiner Oberlippenbart, den er mit schier unverständlicher Ausdauer pflegte.
Mormand de Arrival Visond hatte schon in frühen Jahren eine Glatze bekommen. Jetzt trug er eine Perücke aus blonden, gelockten Mädchenhaaren. Seine Liebe galt dem Wein, aber noch mehr war er den Frauen zugetan. Allerdings war ihm der Gedanke, jemals zu heiraten, zutiefst zuwider.
Julienne kehrte zurück, aber hinter ihr wehte ein grauenvoller Gestank in den Saal. Angewidert rümpfte der Lichtkönig die Nase und fasste nach seinem Riechfläschchen.
Seinen vorwurfsvollen Blick bemerkend, sagte sie: »Es kommt von draußen, L'umeyn. Die Mauern überziehen sich mit einer gelben Schicht, die vom Fluss heraufsteigt. Böse Geister streifen über die Insel.«
»Papperlapapp!« machte Mormand. »Welcher Magier wird es wohl wagen, sich mit uns zu messen?« Ganz wohl war ihm dabei aber nicht zumute. Es blieb ein gewisses Unbehagen, die Ahnung einer drohenden Gefahr. »Vassander muss her!« herrschte er das Mädchen an. »Suche den Erzmagier und sage ihm, dass ich seines Rates bedarf.«
*
Magier waren geachtet in Ugalien. Zum einen, weil die Ugalier ein zutiefst abergläubisches Volk waren, das für alles und jedes eine Deutung in der Weißen Magie suchte, zum anderen, weil ihr Lichtkönig, der L'umeyn, nicht durch Erbfolge, sondern von den Göttern bestimmt wurde. Nach dem Ableben eines Herrschers traten jeweils die zwölf Magier der Grafschaften zusammen, um einen Nachfolger zu bestimmen. Sobald sie dann ihre Wahl getroffen hatten, zog der Erzmagier von Ugalos zum Orakel von Theran, um die Wahl durch einen Wahrspruch bestätigen zu lassen.
Zuletzt war dies vor dreißig Jahren geschehen. Mormand de Arrival Visond war ganze vierzehn Jahre jung gewesen, als das Orakel ihn in Gegenwart des Magiers Vassander als Herrscher anerkannt hatte.
Selbstverständlich konnte es auch geschehen, dass das Orakel von Theran einen anderen Namen nannte. Vor allem in Zeiten, in denen es dem Herrscher schlechtging oder gar sein Tod vorhersehbar war, wurden im Volk Stimmen laut, dass der Erzmagier einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Wahrspruch nehmen könne.
An all das und vieles andere mehr musste der L'umeyn denken, während er ungeduldig darauf wartete, dass Vassander zu ihm kam. Im Lauf vieler Jahre hatte sein persönlicher Berater es verstanden, zum mächtigsten Magier im Lande aufzusteigen .
Mormand hatte die Fenster des Palastes schließen lassen, als der hereinwehende Gestank schier unerträglich geworden war. Vom Ratssaal aus bot sich ihm ein guter Überblick über die sich teilende Lorana. Aber nur der linke Seitenarm hatte sich in eine dampfende Kloake verwandelt, auf der zu Hunderten tote Fische trieben. Die Ufer waren braun geworden von absterbenden Pflanzen, wohingegen der rechte Flusslauf kaum zur Hälfte von gelben Schlieren überzogen war. Die Weinberge, die von Norden her bis ans Wasser reichten, zeigten noch keine Schädigungen.
Waren tatsächlich böse Geister am Werk? Der L'umeyn fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Immer wieder tastete er über die Amulette, die er an schweren Goldketten um den Hals trug.
»Lastet wirklich ein Fluch auf Ugalos?« fragte er sich im Selbstgespräch.
Die Magier mussten helfen, denn nichts war ihnen mehr zuwider als die Schwarze Magie, wie die
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